zudem der Krösus der Familie war. Er hatte damit begonnen, deutsche Orden an amerikanische Souvenirjäger zu verkaufen, hatte daran auf dem Umweg über Zigaretten ein Fahrrad und einen Fußball verdient und den Schwarzhandel mit den Ehrenzeichen aufgegeben, als er merkte, daß er durch das im übrigen lästige Klavierspiel genausogut verdienen konnte. Er mußte täglich unter Aufsicht seiner Mutter eine Stunde üben, und wenn sie den Raum verließ, stellte er zwecks Abkürzung der lästigen Etüden die Uhr vor, weshalb bei Brenners immer die Stunde vorauseilte, obwohl sie doch sonst notorisch hinter der Zeit blieben.
Guido hatte im amerikanischen Soldatensender einige Modeschlager aufgefischt und konnte sie jetzt ganz leidlich klimpern, wozu ihn Anny, die zweite Untermieterin der Familie, ermunterte, die hauptberuflich im Dienst der deutsch-amerikanischen Verständigung stand, was die bürgerliche Moral der Familie Brenner häufig durch amerikanische Konserven belastete.
Anny, nach der Entnazifizierung des Hausherrn der wichtigste Gesprächsstoff der Familie und willkommene Abwechslung Martins, sah aus wie ein verblaßter Rauschgoldengel, der dringend renoviert werden mußte. Sie hatte kurze blonde Haare und ein kaum stillbares Verlangen nach Männern, dem sich Martin bislang mit Erfolg entzogen hatte, nicht aus Gründen der Moral oder um Frau Brenner gefällig zu sein, sondern weil er es nicht verstand, wie es ein Mann mit einem verblaßten Rauschgoldengel haben konnte. Aber die Burschen aus Übersee kamen in Scharen, und Anny mußte ihnen erst beibringen, mit ihrem Jeep am Hinterausgang des Hauses vorzufahren, weniger weil sie sich vor den Nachbarn genierte, sondern weil die GIs aus Texas und Alabama dicke Pakete mitbrachten, die zeitweilig in der Badewanne der Brenners eingelagert werden mußten.
Dann machte es sich Anny, wie sie sagte, gemütlich, und Guido, der Sechzehnjährige, mußte sich an das Klavier setzen und You belong to my heart oder No can’t do herunterklimpern, obwohl Anny ziemlich viel mit sich tun ließ. Wenn aber Guido, dessen Musikalität mit Zigaretten und Schokolade honoriert wurde, Don’t fence me in spielte, schossen dem Rauschgoldengel die Tränen aus den Augen, denn Anny war eingesperrt gewesen, in einem Arbeitslager, wegen geselligen Umtriebs mit ausländischen Arbeitern, welches Delikt freilich mehr nymphomanisch als politisch bedingt gewesen war.
Jedenfalls brachte sie einen gewaltigen Nachholbedarf mit; es führte häufig zu Schwierigkeiten im Parteienverkehr, wenn der eine Uniformierte in den Schrank kriechen mußte, während der andere seine Liebe gestand, der Dritte sich im Badezimmer aufhielt und ein Vierter schon im Anmarsch war. Zuletzt gewannen die olivgrünen Soldaten meist einträchtig, aber geschlagen, wieder das Freie.
Dann jeweils begannen die Gewissensfragen der Frau Brenner, die einerseits ihre »politische« Untermieterin fürchtete und deshalb Geschenke nicht zurückweisen wollte, andererseits zu anständig war, um sich an dem Treiben »einer solchen« zu bereichern. Aber was hieß schon bereichern, wenn die ganze Familie Hunger hatte und auch der andere, anständige, wenn auch ebenfalls politische Untermieter Martin Ritt als alleinstehender Junggeselle einmal etwas Warmes im Magen haben sollte? Zumal sich seine Quartiergeberin längst überlegte, wie sie ihn in den Feldzug zur Rehabilitierung ihres Mannes einspannen könnte, was immerhin schwierig war, da der Verfolgte den Belasteten erst seit ein paar Wochen kannte.
Aber die resolute Frau sagte sich, daß, wo ein Wille, ein Weg sei; und so saß Martin notgedrungen am Familientisch und aß das mittels Zwiebeln und Petersilie veredelte Cornedbeef aus der Büchse, dazu geröstete Kartoffeln und grünen Salat, auf dem Guido lustlos herumkaute.
»Nun iß!« sagte Frau Brenner zu ihrem Jüngsten. Sie sah zu dem Zimmer, in dem Anny vermutlich wieder nicht allein schlief, verzog den Mund und sagte: »Die ist noch nicht aufgestanden. Noch immer nicht.« Sie wandte sich an Martin, der froh war, beim Thema Nummer zwei zu sein. »Sie mag ja Schweres durchgemacht haben«, fuhr Frau Brenner fort, die Stimme dämpfend, »aber das geht doch wohl zu weit – meinen Sie nicht auch, Herr Ritt?«
Der gewesene Oberinspektor sprach wenig. Er litt. Um seinen Beruf zu erhalten, war er in die Partei eingetreten; nun hatte er ihn deswegen verloren – das begriff er nicht.
»Es geht mir ja nur …« Frau Brenner betrachtete Guido. »Es kommen ja einmal wieder normale Zeiten und dann …«
»Und dann?« fragte der Junge ungezogen mit vollem Mund. »Sagt ihr dann wieder, daß ihr gezwungen wart, mitzumachen?«
»Guido!« verwies ihn die Mutter und wandte sich wieder an Martin: »Gewiß, wir haben den Krieg verloren – aber muß ich so etwas in meiner Wohnung dulden, selbst wenn mein Mann bei der Partei war?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Martin ernsthaft.
»Dann verbiet ihr doch, daß sie es mit den Amis treibt!« rief Guido laut.
»Pst!« erwiderte Frau Brenner. »Und drück dich nicht so gewöhnlich aus! Da sehen Sie es, Herr Ritt, wie das abfärbt, wie …«
»Wie was abfärbt?« fragte der Junge. »Das Cornedbeef? Das Fett? Warum redet ihr von Moral und freßt doch das Zeug? Wo ist denn das Fleisch her? Womit hast du die Soße gemacht?«
«Guido, ich bitte dich!« sagte der stille Oberinspektor scharf.
»Entschuldigen Sie«, wandte sich seine Frau an Martin.
»Habt ihr nicht erlebt«, fuhr der Junge fort, »wie weit ihr mit euren Schwindeleien gekommen seid? Und jetzt schwindelt ihr schon wieder!«
Er stand auf, warf die Serviette auf den Tisch:
»Warum sprichst du mit ihr? Warum gibst du ihr die Hand? Warum wirfst du ihr den Plunder nicht vor die Füße? Warum wohl?« Guido beugte sich zornig zu seiner Mutter hinab: »Weil du satt werden willst. Ich auch. Dann laßt aber gefälligst das dumme Gefasel von Moral und so!«
Der Junge warf die Tür hinter sich zu.
Seine Mutter weinte.
»Es tut mir leid, Herr Ritt«, klagte sie zwischen Tränen, während ihr Mann sich lautlos schämte, »aber Sie sehen ja, wie die Kinder in dieser Zeit verwildern.«
»Es wird schon alles werden«, sagte Martin und folgte Guido.
Draußen schloß er mit dem Jungen Freundschaft und träumte davon, daß die heranwachsende Generation aus lauter wilden, respektlosen Guidos bestehen möge.
Am nächsten Tag fuhr ein Jeep vor, der nicht am Hinterausgang hielt, sondern auf der Straßenseite. Ein dicklicher GI keuchte die Treppe herauf und fragte sich nach Martin durch. Er hatte Befehl, ihn in das Hauptquartier der Frankfurter Militärregierung zu schaffen, das im beschlagnahmten Hochhaus der IG-Farben lag, deren Direktoren zur gleichen Zeit vom Nürnberger Militärtribunal abgeurteilt wurden.
»Es tut mir leid«, begrüßte ihn ein Major mit einem Pferdeschädel, der schriftdeutsch mit leicht schwäbischer Klangfarbe sprach, »einem Freund von Captain Lessing hätte ich gern geholfen, aber ich komme selbst nicht durch das Gestrüpp der verdammten Bürokratie.« Er bot Martin eine Zigarette an. »Es kann noch Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis ich aus dem Vermögen Ihres – Ihres Vaters …«
»Ich habe nicht die Absicht«, unterbrach ihn Martin, »etwas aus dem Vermögen meines – meines Vaters an mich zu nehmen.«
»Nonsens«, knurrte der Pferdekopf, »mit Ressentiments kommen Sie nicht weiter, Mr. Ritt.« Er sah seinen Rauchringen nach, die wie kleine Schlingen aussahen. »Wir haben eine Möglichkeit gefunden, Ihnen wenigstens unter der Hand zu helfen.«
Die Waldhütte, die der alte Ritt während des Zusammenbruchs als Zuflucht benutzt hatte, diente jetzt einem Colonel als Jagdhaus. Der Offizier war damit einverstanden, daß Martin sich dort holte, was er für brauchbar hielt, und ließ ihm den Schlüssel überreichen. Der Major von der Property Control lieh ihm Jeep und Fahrer für den ganzen Tag.
Eine Stunde später stand Martin mit zwiespältigen Regungen vor der Jagdhütte. Sie lag in einer Waldlichtung, die von der Sonne verwöhnt wurde, an leicht erhöhter Stelle, von Mischwald umsäumt.
Das Schloß war eingerostet, der Schlüssel brach ab. Der dicke Amerikaner fluchte, riß den morschen Holzladen auf, schwang sich auf den Sims, trat