Will Berthold

Die wilden Jahre


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wurde, weil er Polen und Russen in das KZ einweisen ließ – oder wegen des Mordes an deinem Vater –, einer mußte ihn anklagen und einer das Urteil sprechen.«

      »Du willst mich nicht verstehen«, sagte Felix, »ich habe …«

      »Ich bin mit dem Vorsatz aus dem Krieg zurückgekommen«, unterbrach ihn Martin, »Männern seines Schlages heimzuzahlen, was sie an mir, an dir, an deinem Vater, an unserer Generation verbrochen haben –. Ich hätte ihn selbst – wie hast du doch gesagt, Felix? – gesucht, gejagt und gestellt.«

      »Du weißt noch nicht alles«, sagte Felix. Er sprach langsam und bedächtig, als reihe er die Buchstaben wie Perlen auf eine Schnur, falsche Perlen, Glasperlen, Plunder. »Du weißt nicht, wie ich das Urteil erwirkt habe.«

      »Und?« fragte Martin und spürte Unbehagen, weil ihn Felix so unverwandt und aggressiv musterte, daß sich die Blicke des Freundes wie zwei spitze Nadeln in sein Gesicht zu bohren schienen.

      »Ich habe Zeugen erpreßt und bestochen. Ich habe sie zum Meineid gedrängt – und …«

      Die Schnur riß. Die Perlen fielen zu Boden. Sie rollten unter die Kommoden und Tische.

      »Also los«, Martins Stimme stieß an die Zähne, »erzähl deinen Roman. Mach es rasch – und laß endlich den dummen Schnaps stehen!«

      Felix sprach langsam, eindringlich. Zwischendurch betrachtete er den Freund, wie damals an der Universität, als er ihm immer und immer wieder vorschlug, den Verkehr mit ihm aufzugeben, und dabei in Martins Gesicht nach verhohlener Zustimmung suchte. Die verblaßte Erinnerung stand wieder vor ihm, nahm Farbe an, Kontur, Jahre waren weggewischt, die Mauer übersprungen, auch wenn Felix das noch nicht wußte und erst nach und nach begriff, daß sein Freund ein Freund geblieben war und bleiben würde.

      Während Felix sprach, brach draußen das Gewitter los, tobte der Wind gegen die Hauswand, prasselten dicke Tropfen an die Fensterscheiben, hinter denen sich die drückende Schwüle verschanzt hatte.

      Immer wieder sah Felix zu Martin, verstand nicht seinen Gleichmut: Sosehr ihn seine Haltung beruhigte, so wenig konnte er sie begreifen. Sie schien ihm so unnatürlich, daß sie ihn fast störte.

      »So habe ich also«, schloß Felix, »planmäßig und vorsätzlich einen in diesem Fall Unschuldigen …«

      »Es reicht!« schnitt ihm Martin das Wort ab und stand auf. Er sah, wie der Freund wieder nach der Flasche griff, nahm sie ihm weg, knallte sie auf den Tisch.

      »Jetzt bin ich an der Reihe. Hör mir gut zu, denn ich möchte nie mehr darüber sprechen: Der Mann, um den es geht, ist mir fremd, obwohl ich sein Sohn bin.«

      Martin sprach ruhig, gezielt, abgehackt: »Schon als er mir die Mutter nahm, mochte ich ihn nicht; als er deinem Vater die Fabrik abpreßte, verachtete ich ihn. Ich habe ihn gehaßt, als mir im Krieg Dreck und Kugeln um den Kopf flogen, als ich den ersten Toten eingrub und die ersten zerfetzten Därme sah.« Grimmig fuhr er fort: »Als ich im Lazarett verwundet unter der Sauerstoffmaske lag und nach drei Tagen zum Bewußtsein kam, sah ich keine Schwester, hörte keinen Arzt, achtete ich nicht auf die Diagnose: ihn sah ich, fahlgelb, betrunken und randalierend in dieser Mostrichuniform. So sah ich ihn im Kriegsgefangenen-Camp, auf der Fahrt hierher. Wegen dieses Bildes habe ich mich auf die Heimkehr gefreut. Wir – wir sind Zwillingsbrüder des Hasses, mein Lieber …«

      Martin blickte nach draußen, als betrachte er die schwefelgelben Blitze, denen der Donner in weiter Entfernung folgte.

      »Zurück zur Sache: Wenn wegen dieses Urteils einer mit dir hadern kann, dann bin ich es. Du hast mich um die Abrechnung gebracht. Du hast mir den Wahn vieler Jahre genommen. Verstehst du das? Einem Toten gegenüber habe ich keinen Haß mehr. Er ist mir so fremd wie Millionen andere, die in diesem Krieg umgekommen sind, schuldig und unschuldig, einer neben dem anderen.«

      Felix sah zu Martin auf, ungläubig, betroffen, gebannt, fasziniert.

      »Im übrigen schaue ich nicht mehr nach hinten«, erklärte Martin, »sondern nach vorn. Mein Vater ist tot, und mit ihm ist unser Problem gestorben, und ich möchte nie mehr über diese Sache sprechen. Haben wir uns verstanden?«

      Felix lächelte dünn. Die Falten in seinem Gesicht wirkten wie die ersten Sprünge auf einer Eisfläche.

      »Es geht auch gar nicht um unsere Väter«, fuhr Martin fort, »sondern um uns. Allenfalls ist die Frage zu klären, ob ein Captain der amerikanischen Armee und ein Entlassener der deutschen Wehrmacht Freunde sein können. Kapiert?«

      Martin riß die Fenster auf.

      Von draußen strömte saubere, vom Regen gewaschene Luft in den Raum und nahm ihm die brackige Schwüle. Die Sonne brach durch die abziehenden Wolken. Der Tag wurde wieder licht; die Bäume im Garten glänzten im neuen Grün.

      Die beiden Freunde standen nebeneinander und betrachteten schweigend den Regenbogen in seinen phantastischen Farben, der wie eine Traumbrücke war, die sie tragen würde. Ihre Gesichter waren entspannt, ihre Hände ruhig.

      Das Gewitter hatte den Tag gesäubert.

      XIII

      Durch nichts ließ Martin in den nächsten Wochen erkennen, daß er am Anfang einer Karriere stand, die von der Boulevardpresse später als »ein märchenhafter Aufstieg ohne Beispiel« gefeiert werden sollte.

      Er gewöhnte sich an die wortreichen Tiraden der Frau Brenner, seiner Quartiergeberin; sie plädierte stets für ihren Mann, einen städtischen Oberinspektor, der fristlos aus dem Dienst entlassen worden war. Ihr Mann, so führte sie aus, hätte unter der braunen Bewegung gelitten und wäre seiner Familie zuliebe 1937 in die Partei eingetreten, lediglich, um Beiträge zu entrichten. Sei das ein Grund, ihn aus dem Amt zu entfernen?

      Martin verneinte.

      Es waren Gespräche, die an jeder Straßenecke, an jedem Schalter, auf jeder Anklagebank zu hören waren. Überall beteuerten Menschen ihre politische Unschuld, auf ihr schweres Schicksal verweisend; und das Tragische war, daß viele von ihnen recht hatten. Im Netz einer oberflächlichen, summarischen Säuberung blieben vorwiegend die kleinen Fische hängen, denn die Hechte lagen auf Grund oder Untergrund.

      Martin war nach Frankfurt zurückgekehrt, um seine Übersiedlung nach München vorzubereiten, wo ihm Felix eine Wohnung beschaffen wollte. Das gesamte Vermögen des alten Ritt unterstand der Property Control, der amerikanischen Vermögensverwaltung. Über einen befreundeten US-Major wollte Felix versuchen, zunächst wenigstens das persönliche Eigentum des Freundes freizubekommen.

      Bis dahin saß Martin untätig in Frankfurt herum, warf Rothauch, den lästigen Mitschüler, der Bescheinigungen für sein Spruchkammerverfahren sammelte, hinaus, schlief unter dem Bild Erwins, des Gefallenen, das mit Wachsblumen geschmückt war und ihm zulächelte. Erwin und Martin wurden Kameraden des Zufalls.

      Das Leben der Familie Brenner war streng geordnet. Zuerst kam der Kirchenbesuch. Der Oberinspektor war auch während des Dritten Reiches zur Kirche gegangen, aber was er damals verstohlen getan hatte, demonstrierte er jetzt.

      Nicht nur er. Auch andere, die früher dem Gottesdienst ferngeblieben waren, betonten jetzt ihr Christentum. Die Kirchentüren öffneten sich weit wie Scheunentore, in die die Ernte eingefahren wurde: mancherlei Fallobst war darunter, das bald von beflissenen Winzern zum Most der Macht vergoren werden sollte.

      Dieser Andrang verbitterte den städtischen Oberinspektor Brenner, weil die großzügigen Atteste, die recht bereitwillig ausgestellt wurden, die Bescheinigungen der Leute entwerteten, die, wie er, zur Religion gestanden hatten, zu deren Wesen es freilich wiederum gehörte, zu verzeihen.

      Den zweiten Rang nach dem Umgang mit der Kirche nahmen Brenners tägliche Gänge zu Verwandten, Bekannten, Untergebenen und Vorgesetzten ein, die ihm seine anständige Vergangenheit schriftlich bestätigen sollten.

      Zu dieser Zeit sammelten die Frauen Kleinholz und die Männer Persilscheine wie dieser Oberinspektor, der dicke Leitzordner damit füllte, da er annahm, vor der Spruchkammer wöge ein Kilogramm Papier schwerer