Will Berthold

Die wilden Jahre


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streiften Martins Gesicht. Verbrauchte Luft schlug ihm entgegen. Er kam sich, als er das zwecklose Asyl seines Vaters betrat, wie ein Grabräuber vor. Er riß die anderen Fenster auf. Das Licht fiel auf eine dicke Staubschicht, mit der die Zeit den Raum gepudert hatte. Langsam vertrieb der Luftzug den Geruch von Holz, Nässe und Fäulnis.

      Martin wollte nicht an seinen Vater denken, aber er spürte unwillkürlich die Angst und die Einsamkeit, die der alte Mann erlebt haben mußte. Er hat, so dachte Martin, gefehlt und gebüßt – mehr gebüßt als andere, die unbehelligt blieben –, und diese glatte Rechnung erlaubt es mir, mich mit ihm auszusöhnen.

      Martin sah sich um und spürte beim ersten persönlichen Kontakt, den er seit vielen langen Jahren mit der Welt seines Vaters hatte, Mitleid.

      Er schüttelte es ab und begann, die Schränke und Truhen zu durchsuchen. Er fand Anzüge, deren Hosen und Ärmel ihm zu kurz und deren Jacken ihm zu weit waren. Gutes Material, das man ändern konnte, aber Martin faßte die Kleidungsstücke mit spitzen Fingern an. Zwischen den Socken stieß er auf das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz und steckte es lächelnd für Guido ein, der für dieses seltene Ehrenzeichen mindestens hundert Zigaretten herausschlagen würde.

      Die Ausbeute war schmal. Martin hatte es nicht anders erwartet. Er war auch nur gekommen, weil Felix es vorgeschlagen hatte. Er war Überlebender und wollte nicht mehr nach hinten sehen.

      Auch das Bücherregal versprach wenig. Brehms Tierleben hielt sich noch aufrecht; die Germanischem Heldensagen waren schräg abgerutscht, und Grimms Volk ohne Raum lag mit dem Gesicht im Staub, umrahmt von Kriminalromanen.

      Hinter der Badezimmertür hing ein schwarzes Nylonnegligé, das vermutlich der Gefährtin des derzeitigen Hausherrn gehörte. Martin ging weiter in den Keller, stieß auf leere Wein-und Kognakflaschen, auf weggeworfene Schuhe mit defekten Absätzen und ein Radiogerät, Marke Volksempfänger, das bei der letzten Party in Stücke gegangen war.

      Schließlich ging die Rechnung dieses Tages auf: Martin hatte keinen Nachlaß erwartet und auch keinen vorgefunden. Er nahm zwei getragene Anzüge unter den Arm und pfiff vor sich hin, wollte durch die Tür, merkte, daß er den Weg durch das Fenster nehmen mußte, und stieß an einen Stuhl, der gegen die holzverkleidete Wand polterte. Er setzte das Kleiderbündel ab, und während er den Stuhl aufhob, sah er zum zweitenmal den Riß über einer Ausbuchtung der Holzvertäfelung, betrachtete ihn genau und erfaßte, daß in einem Hohlraum etwas versteckt war.

      Er nahm ein Streichholz, leuchtete hinein und sah ein Bündel Akten. Bevor er sie durchsah, wußte er schon, daß er auf das Fluchtgepäck seines Vaters gestoßen war.

      Er fand im ersten Ordner einen ganzen Block Reisemarken, die ungültig waren. Ein dickes Bündel Geldscheine fiel zu Boden, Papiermark, die noch zählte. Er schob sie so achtlos in die Tasche wie das Ehrenzeichen, schaute in den zweiten Ordner und stieß auf geballten Unrat des braunen Systems: Intrigen, Verleumdungen, Verdächtigungen; Momentaufnahmen aus dem Dritten Reich, der Gemeinschaft von Erpressern und Erpreßten.

      Als er diesen Abfall auf den Müllhaufen werfen wollte, stieß er auf den Namen Kahn.

      Er kannte vier Kahns, und am besten von ihnen Lydia, die Tochter, eine dunkelhaarige, hochbeinige Zwanzigjährige mit schelmischen Augen und einer kecken Figur, das Gegenteil ihres Zwillingsbruders Jakob, der verschlossen und ernst wie sein Vater war und seine Jugend vergessen hatte.

      Martin sah Lydia vor sich, im Weiß des plissierten Tennisrocks, das ihre Beine noch gebräunter wirken ließ. Sie flirtete lebhaft herum, ohne sich festzulegen. Ihre großen dunklen Augen mußten viel Trauriges ansehen, aber sie blieben lustig bis zuletzt. Lydia machte in schwerer Zeit ihren Eltern das Leben leichter und einigen ihrer Hasser die Verfolgung schwerer. Sie lächelte die Braunhemden sorglos an, lachte sie aus, und liebte es – wenigstens in der ersten Zeit –, die Augen singender Kolonnen auf sich zu ziehen, obwohl der Vorbeimarsch auf der anderen Seite abgenommen wurde.

      Lydia leugnete die Gegenwart, verlachte die Zeit und spielte mit Martin Tennis, solange man sie noch auf den Platz ließ. Sie glich ihrer Mutter und hatte wenig vom Vater, einem Ingenieur, der auf ein halbes Dutzend Erfindungen Patente besaß; diese waren seine Einlage der Werke Lessing & Kahn, die sich mit Metallveredelung befaßten.

      Lessing, der Vater von Felix, war der Kopf des Unternehmens; Kahn, sein Teilhaber, die Hand, deren Geschick auch während der wirtschaftlichen Depression der dreißiger Jahre der Fabrik die Vollbeschäftigung bewahrt hatte. Dann kam die Rüstung – allerdings unter neuer Leitung.

      Unvermittelt schwand vor Martin das Bild eines lustig flatternden Tennisrocks. Die Buchstaben kreiselten wie Insektenschwärme. Der Schriftwechsel in seiner Hand wog schwer: Aus den vergilbten Blättern schlug ihm Blutgeruch entgegen. Er zwang sich zum Lesen, versuchte, die pedantisch nach Daten geordnete, durch Briefe und unterschriebene Notizen belegte Ungeheuerlichkeit zu begreifen.

      4. März 1941:

      Frederic Panetzky, Inhaber einer Import-Export-Firma in Zürich, Talstraße, läßt durch Kurier unter Berufung auf die alte Geschäftsverbindung Friedrich Wilhelm Ritt einen vertraulichen Brief überreichen, in dem er anfragt, ob die vierköpfige Familie Kahn noch am Leben sei und ob eine Möglichkeit bestünde, ihr zur Auswanderung zu verhelfen. »Ich bin ermächtigt«, heißt es, »in einem solchen Fall im Namen amerikanischer Verwandter der Kahns, die in Philadelphia, Pennsylvania, leben, ein lukratives Angebot (in Dollars) zu machen. Die Summe, deren genaue Höhe noch auszuhandeln ist und die zur Begleichung der Unkosten usw. dienen soll, würde bei einer Zürcher Privatbank hinterlegt und nach dem Eintreffen der Auswanderer in der Schweiz ohne jede Nachfrage und auch ohne jedes Risiko an mich zwecks Weiterleitung ausgehändigt.«

      5. März 1941:

      Friedrich Wilhelm Ritt erkundigt sich bei einem alten Korpsbruder, z. Zt. Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, ob ihm ein Frederic Panetzky, Zürich, usw. bekannt sei.

      6. März 1941:

      Gaufachschaftsleiter Egon Silbermann teilt »dem alten Kameraden Ritt« auf Anfrage mit, daß die Juden Kahn, Vater, Mutter, Sohn und Tochter zur Zeit in einem Arbeitslager auf ihren Transport in den Osten warteten, der spätestens in einigen Wochen erfolge. »Zwar habe ich seit meiner Rückkehr von der Frontbewährung mit diesen SD-Aktionen nichts mehr zu tun, aber ich könnte immerhin aufgrund alter Beziehungen unter Umständen eingreifen. Wenn Du mir also rechtzeitig mitteilst, was mit diesen Juden geschehen soll, werde ich versuchen, Deine Wünsche entsprechend berücksichtigen zu lassen.«

      7. März 1941:

      Sturmbannführer K. vom RSHA teilt Friedrich Wilhelm Ritt »streng vertraulich« mit, daß es sich bei Fritz Panetzky um einen Rein-Arier handle, der zur Zeit der k. u. k. Monarchie in Lemberg geboren wurde, es aber 1918 abgelehnt habe, Pole zu werden. »Später schlug sich der Mann als Staatenloser nach Deutschland durch und stellte ein Gesuch auf Einbürgerung. Bei der Überprüfung dieses Antrages kam er mit einer Dienststelle in Berührung, die ich im Reichsinteresse selbst Dir gegenüber nicht näher benennen kann. Panetzky übersiedelte dann nach Zürich, und gründete dort eine Firma; er hat sich offensichtlich bei vielen Aufträgen sehr bewährt. Obwohl er vom Endsieg des Führers überzeugt ist, würde ich ihm mit einer gewissen Vorsicht begegnen.«

      9. März 1941:

      Aktennotiz über eine Auslandsreise in die Schweiz:

      »Sodann teilte ich Panetzky bei einer persönlichen Unterredung mit, daß ich mich für die Auswanderung der mir persönlich bekannten Familie Kahn verwenden würde, falls Pg. Silbermann von der Gauleitung keine Bedenken äußere und das Reich die für seinen Schicksalskampf so nötigen Devisen erhielte. Ich schlug vor, daß die amerikanischen Verwandten der Juden pro Kopf der Auswanderer fünfundzwanzigtausend Dollar, insgesamt also hunderttausend Dollar, hinterlegen sollten, die später auf noch festzulegende Weise der Deutschen Reichsbank …«

      2. April 1941:

      Panetzky läßt in einem Brief aus Zürich wissen, daß die amerikanischen Verwandten der Kahns mit der Abwicklung »der Sache« zwar grundsätzlich