Peter Chemnitz

Ach los, scheiß der Hund drauf!


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Dieser Mann versuchte nun, unter den Volksgenossen Panik zu verbreiten. Die Amerikaner würden uns alle umbringen. Die Angst steigerte sich noch, als an einem der letzten Apriltage eine Einheit der Waffen-SS einrückte und sich über Nacht einquartierte. Zur allgemeinen Erleichterung zogen die Soldaten am nächsten Tag weiter. Prompt hängten die Dorfbewohner aus allen Fenstern weiße Bettlaken. Die Amerikaner werden sicher gegrinst haben, als sie später unser total weiß beflaggtes Dorf entdeckten.

      Diese Kapitulationserklärung kam keine Stunde zu früh, denn kurz darauf riefen die ersten Bauern: „Dort sind die Amerikaner.“ Sie zeigten in Richtung des etwas höher gelegenen Nachbardorfes Eickhof; von dort kamen Panzer heruntergefahren. Hundert Meter vor unserem Hof stoppten sie und bildeten ein Karree. In der Mitte wurde eine Funkantenne ausgefahren. Während sich der NSDAP-Ortsgruppenleiter eilig im Haus versteckte und auch die anderen scheel aus den Fenstern spähten, liefen wir Kinder einfach hin. Wir erwarteten nichts Schlimmes und wollten uns diese tollen Panzer ansehen. Als mein Onkel mitbekam, dass wir Kontakt zu den Soldaten hatten, bat er mich, ihm von diesen Zigaretten zu besorgen. Die gab mir dann ein schwarzer Soldat im Tausch gegen Eier. Es war der erste schwarze Mensch, dem ich begegnete.

      Die Amerikaner blieben eine Nacht und zogen dann weiter. Ich stromerte am nächsten Morgen über den Hof und entdeckte an der Hauswand hinter dem Kaninchenstall eine Lücke, in der etwas steckte. Es stellte sich heraus, dass es kolorierte Bilder aus einem Zigarettenbildband waren: Deutsche Kolonien, der Erste Weltkrieg, die Reichswehr. Die hatte dieser Ortsgruppenleiter versteckt. Ich habe sie kurzerhand an mich genommen und in meinem Zimmer verstaut. Diese Bilder sollten mich die nächsten Jahrzehnte begleiten und ich habe viel durch sie gelernt. Vielleicht haben sie auch meine Sehnsucht nach der weiten Welt und insbesondere nach Afrika geweckt. Und noch ein anderes Erlebnis prägte sich mir ein. Als ich auf das Plumpsklo ging, sah ich unten etwas blinken. Das war das kleine Hakenkreuz, das mein Onkel schnell entsorgt hatte. Da habe ich mich hingesetzt und auf dieses Parteiabzeichen geschissen.

      Mit dem Erscheinen der Amerikaner hörten die Tieffliegerangriffe auf. Ich konnte wieder ungefährdet herumlaufen und die Amerikaner schienen ja nette Kerle zu sein. In voller Verkennung dieser Tatsachen erschien meine Mutter eines Abends in meinem kleinen Zimmer. Sie nahm mich in den Arm, was so gar nicht ihre Art war, denn meine Mutter war nicht besonders zärtlich. „Du musst nicht traurig sein, der Krieg ist keineswegs zu Ende. Der Führer hat noch die Wunderwaffe.“ Bis heute sind mir diese Sätze nicht aus dem Kopf gegangen, denn meine Mutter war völlig unpolitisch. Diese Äußerung scheint mir der Beweis zu sein, in welchem Maß das deutsche Volk verblendet worden war.

      Mutter kehrte nach Bochum zurück und ich war froh, dass mir niemand mehr in meine Freiheiten reinredete. Allerdings endeten sie dennoch Ende Juni. Mutter erschien erneut, um mich zurück in die Stadt zu holen. Ich bin laut schluchzend aus dem Dorf gelaufen, in dem ich so wunderbare zweieinhalb Jahre verbracht hatte. Es war für mich eine schreckliche Vorstellung, in die Enge der elterlichen Wohnung zurückkehren zu müssen. Die Bauern und Bäuerinnen kamen aus den Häusern und nahmen mich in den Arm. Das sei doch kein Abschied für immer, ich könne doch wiederkommen, versuchten sie mich zu trösten.

      Nach einer langen, umständlichen Fahrt mit Lastwagen, Bussen und Zügen kamen wir irgendwann in Bochum an. Der Anblick der Stadt war fürchterlich. Es gab keine Häuser mehr, keine Straßen. Und ich hatte meine Freiheit verloren, fortan schlief ich wieder im Zimmer meiner Eltern. Es sollte aber noch schlimmer kommen. Ich rechnete fest damit, aufs Gymnasium gehen zu dürfen. Schließlich hatte diese Lehrerin mir gesagt, was für ein toller Typ ich sei. Auch alle meine alten Spielkameraden, die wie ich aus der Kinderlandverschickung zurück waren, erzählten, dass sie das Gymnasium besuchen werden. Vater, der als Reparaturschlosser bei Krupp arbeitete, fand aber, das Gymnasium sei zu teuer. Es kostete zwanzig Mark im Monat, der Besuch der Mittelschule nur zwölf.

      Die sechs Jahre Mittelschule absolvierte ich lässig und unmotiviert. Ich hatte gute Zensuren, galt aber als aufsässig. Horror hatte ich vor dem zweimal wöchentlich stattfindenden Sportunterrricht, weil dieser nur aus Geräteturnen bestand. Ich war ein begeisterter Leichtathlet. Überhaupt trieb ich mich viel im Freien herum. Als ich hörte, dass in der Nähe ein Pfadfinderstamm aufgebaut wird, meldete ich mich sofort. Nach kurzer Zeit war ich Feldmeister, so hieß bei den Pfadfindern der Gruppenführer. Im Hochbunker richteten wir uns einen Raum ein. Meine Begeisterung war so groß, dass ich auch im Winter kurze Lederhosen trug. Ich wollte zeigen, was für ein harter Kerl ich war. Da hatte die alte Nazilosung „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, schnell wie Windhunde“ wohl doch Spuren hinterlassen. Auch trug ich ständig einen Dolch mit Hirschhorngriff. Auf den war ich besonders stolz und weil ich mich weigerte, diesen im Unterricht abzulegen, wäre ich um ein Haar der Schule verwiesen worden.

      Bei der Ausgabe des Abschlusszeugnisses schlug mir mein Deutschlehrer vor, das Abitur nachzuholen. Er könne mir einen Platz auf einer Internatsschule vermitteln. Als ich meinem Vater das erzählte, sagt der nur: „Deinetwegen trinke ich kein Glas Bier weniger.“ Damit war das Thema erledigt.

      Normal wäre nun gewesen, dass ich wie meine Mitschüler entweder eine Lehre zum Industriekaufmann aufnehmen oder Schmalspuringenieur werden würde. Letztere waren in der Wirtschaft als Steiger im Bergbau oder Vorarbeiter in der Stahlindustrie gefragt. Aber das war nicht mein Ding und ich bewarb mich halbherzig um eine Lehrstelle als Industriekaufmann. Mir war klar, dass ich schon an den ersten Prüfungsaufgaben scheitern würde. So war es auch.

      Meine Mutter arbeitete als Putzfrau bei der Firma Dr. C. Otto & Comp. GmbH Kokerei und Gaswerksbau. Das war eine der weltgrößten Kokereifirmen. Sie putzte unter anderem das Büro des Personalchefs, eines Herrn Dr. Stiel. Der fragte eines Tages meine Mutter leutselig, was denn eigentlich der Sohn beruflich mache. „Ach, Herr Doktor, es ist so schwierig, für den Friedhelm eine Lehrstelle zu finden. Er hat schon so viele Aufnahmeprüfungen gemacht und ist nie angenommen worden.“ Stiel nickte und sagte: „Lassen Sie doch den jungen Mann mal zu mir kommen.“ Ich stellte mich Dr. Stiel vor und er unterhielt sich kurz mit mir. Ich sagte ihm, dass ich unzufrieden mit meiner schulischen Ausbildung sei und gern aufs Gymnasium gegangen wäre, um das Abitur als Abschluss zu besitzen. „Das kriegen wir schon hin“, sagte der Personalchef. Demnächst sei wieder eine Aufnahmeprüfung. „An dieser nehmen Sie teil, dann sehen wir weiter.“

      Wie immer bewarben sich um die hundert Jugendliche und fünf wurden genommen. Ich war dabei. Seitdem weiß ich, wie wichtig Beziehungen sind. Diese Lehrstelle verdankte ich allein der Putzfrau Josefa Braumann.

      Vom 1. April 1952 bis zum 31. März 1954 quälte ich mich durch die Ausbildung. „Während seiner Lehrzeit haben wir Herrn Braumann in unseren Abteilungen Buchhaltung, Lohnbüro, Betriebswirtschaftsstelle sowie in der Abteilung für Steuern und Versicherungen und in der kaufmännischen Verwaltung unseres Bauhofes Gelegenheit gegeben, sich die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Industriekaufmanns, soweit das im Laufe von zwei Dritteln seiner vorgesehenen Lehrzeit möglich war, anzueignen“, heißt es im Abschlusszeugnis. Wenn ich die Namen dieser Abteilungen lese, läuft es mir heute noch kalt den Rücken runter. Mir war klar, dass das nicht meine Zukunft sein konnte. Aber etwas anderes fiel mir nicht ein.

      In meiner Freizeit trieb ich Sport, wurde sogar westdeutscher Jugendmeister im Weitsprung. Und als Lehrling wurde ich Mitglied der Jugendgruppe der Deutschen Angestelltengewerk-schaft. Als Pfadfinderführer und ehemaliger Klassensprecher war ich schnell Leiter dieser Jugendgruppe. Ich organisierte alle paar Monate Freizeiten und das beschäftigte mich viel mehr als die Lehre. Mit einem erfolgreichen Abschluss rechnete ich ohnehin nicht. Ich konnte zwar alle Schrauben auseinanderhalten und wusste, welche Meißel und Hämmer wofür benötigt wurden, aber mit der Mathematik stand ich wie schon in der Schule auf Kriegsfuß. Am schlimmsten waren die Wochen im Lohnbüro.

      In dieser Situation lernte ich Klaus Löhlein kennen, der war für die DAG-Jugend im Ruhrgebiet zuständig. Ein großer, schlanker Mann, dem im Krieg die halbe Brust weggeschossen worden war. Er merkte schnell, dass ich mit meinem Job nicht zufrieden war.

      „Was willst du denn sonst machen?“

      „Ich denke, ich haue ab und gehe zur Fremdenlegion.“

      Nun hatte die DAG-Jugend eine eigene Zeitung, für die ich auch schon mehrfach etwas geschrieben hatte. Kleine Berichte