Die Diplomaten hatten Angst, dass es Schwierigkeiten geben würde, die sie im Nachhinein ausbaden mussten. Und damit hatten sie aus ihrer Sicht durchaus recht.
Mit Hilfe des Oberstaatsanwalts erfuhren wir die Details, auch die von der Botschaft ausgearbeiteten Pläne für den Rückflug. Wir konnten also die Tickets so buchen, dass wir immer im selben Flieger sitzen würden wie Schumann. Mit Ghana-Airways sollte es nach Lagos in Nigeria gehen und weiter mit der Lufthansa nach Frankfurt am Main.
Pünktlich fanden wir uns am 22. November vor dem Gefängnis ein. Das befand sich in einem alten Fort, das die Holländer Anfang des 17. Jahrhunderts errichtet hatten. Wir lernten die beiden Kriminalbeamten aus Deutschland kennen und stellten uns vor. Der eine kam mir sehr bekannt vor. „Sie haben doch mal geboxt?”, fragte ich ihn. Der nickte. „Und Sie waren sogar mal Meister im Halbschwergewicht.” Das Nicken wurde noch freundlicher. „Sie sind ein bekannter Mann.” Das hat ihm geschmeichelt. Wir waren in den Kreis aufgenommen und hatten die erste Hürde gemeistert. Ohne das Wohlwollen der Beamten hätten wir nichts erreichen können.
Zusammen mit dem Oberstaatsanwalt und den Kriminalbeamten sind Michael Friedel und ich in das Gefängnis marschiert, in dem Dr. Schumann seit acht Monaten in einer Zelle saß. Zuvor hatte man uns genau instruiert, was fotografiert werden darf und was nicht. Streng verboten war es, in der Zelle Aufnahmen zu machen. Es war schnell klar, warum. Die Zustände in diesem afrikanischen Gefängnis waren schrecklich, davon sollte nichts nach außen dringen.
Es herrschte eine Temperatur von 40 Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent. Im Trakt war es dunkel. Es gab keine Fenster nach außen und die Zellen waren zum Gang hin vergittert. Es war wie in einem Zoo, nur dass hinter den Metallstäben keine Tiere hockten, sondern Häftlinge.
Die Wärter steuerten auf eine Zelle zu, in der vier Leute saßen: drei Schwarze und Herr Schumann. Der spielte gerade mit einem der Männer Schach. Prompt entfuhr einem dieser deutschen Beamten der Satz: „Herr Dr. Schumann, das Spiel ist aus.” Der kippte seinen König um und sagte: „Ja, ist in Ordnung.” Einer der Beamten fragte ganz höflich, ob er auf Handschellen verzichten könne. Schumann, ein weißhaariger, schmaler, unglaublich charmant wirkender, vornehmer Herr, gezeichnet von acht Monaten Gefängnis, nickte. Er werde keinen Ärger machen.
„Wissen Sie, ich habe damit gerechnet, dass ich abgeschoben werde. Und ich bin froh, endlich aus dieser Kloake rauszukommen.”
Er verabschiedete sich von den anderen Häftlingen mit Handschlag. Die Männer fingen bitterlich an zu weinen. Auch Dr. Schumann hatte Tränen in den Augen. Immerhin hatten sie lange Zeit zusammen in dieser kleinen Zelle verbracht und wahrscheinlich hatte er ihnen als Arzt geholfen.
Die Abschiebung von Schumann wurde ganz britisch abgewickelt. Aus einem kleinen Köfferchen wurden die wenigen Sachen herausgeholt, die er bei seiner Verhaftung dabeigehabt hatte. Das durfte Michael Friedel fotografieren. Auch wie sich Schumann einen Schlips umband. Vom Gefängnis fuhren wir direkt zum Flughafen. Dort stiegen wir in eine kleine, zweimotorige DC3 und waren nach einer halben Stunde in Lagos, wo uns zehn Polizisten erwarteten. Diese begleiteten uns zum Flughafengebäude, in dem wir warten mussten, bis die Lufthansa-Maschine startbereit war.
Bis dahin hatte ich mit Dr. Schumann kein Wort sprechen können. Als es jetzt daran ging, die Transitformulare auszufüllen, sah er mir über die Schultern und las, was ich als Beruf eintrug. „Tja”, sagte er, „das ist Schicksal.”
Mir war sofort klar, woran er dachte. Der Auslöser dafür, dass Schumann sich jetzt in dieser Situation befand, war ein Artikel in der Wochenzeitung „Christ und Welt” gewesen. In diesem war der Arzt als zweiter Albert Schweitzer gefeiert worden, weil er im Grenzgebiet von Sudan, Kongo und Französisch-Äquatorialafrika eine Leprakolonie leitete und „an manchen Tagen fünf, an manchen Tagen sieben Stunden” operierte. Durch diesen Beitrag wurden das „Comité International des Camps” und die deutsche Staatsanwaltschaft auf den Mann aufmerksam. Dr. Schumann musste fliehen und gelangte über Nigeria nach Ghana. Hier wurde er erneut von Reportern, diesmal vom „Daily Express”, entdeckt.
Schumann wusste jetzt also, dass ich kein Kriminalbeamter war, sondern ebenfalls ein Journalist.
In der Maschine schaffte ich es, zusammen mit dem Fotografen in eine Reihe mit den Kriminalbeamten und ihrem Gefangenen zu kommen. Damals gab es noch keine vorgeschriebenen Sitzplätze und die Flugzeuge waren auch nicht ausgebucht. Ich schaute immer mal zu Dr. Schumann rüber und lächelte ihn ein bisschen an. Er lächelte zurück. Als nach dem Abendessen die Kabine abgedunkelt wurde, fragte Dr. Schumann den Boxer, ob er sich nicht zu dem jungen Mann – er meinte mich – setzen und ein wenig mit ihm plaudern könne. An Flucht sei in dem Flugzeug ja ohnehin nicht zu denken. Der Beamte war einverstanden. Und so tauschten Dr. Schumann und der Fotograf ihre Plätze.
Dr. Schumann fing an, mir aus seinem Leben zu erzählen. Anfangs habe ich viele Dinge nicht kapiert. Schließlich hatte ich bis dahin geglaubt, dass die Kriegsverbrecher unmittelbar nach Kriegsende verhaftet und in den Nürnberger Prozessen und den nachfolgenden Verhandlungen verurteilt worden waren. Dieser KZ-Mann aber war 1945 als Truppenarzt an der Westfront in amerikanische Gefangenschaft geraten, im Oktober entlassen worden und hatte in Gladbeck im Ruhrgebiet zunächst als Sportarzt für die Stadt gearbeitet und später eine Stelle als Knappschaftsarzt erhalten. In dieser Position hätte er wahrscheinlich als anerkannter Arzt in Pension gehen können, wenn er nicht auf die Idee gekommen wäre, seinen Jagdschein zu erneuern. Dafür benötigte er ein polizeiliches Führungszeugnis. Und dabei kam heraus, dass in seiner Heimatstadt Halle an der Saale, die in der sowjetischen Zone lag, ein Haftbefehl wegen der Euthanasieverbrechen gegen ihn vorlag. Kurz vor seiner Verhaftung wurde Schumann durch einen Justizbeamten gewarnt und konnte sich nach Japan absetzen. Dort erfuhr er, dass im Sudan Ärzte gesucht wurden, und er ging als Urwalddoktor in den Südsudan. Das alles wusste ich aus den wenigen Unterlagen, die ich über Dr. Schumann im „stern”-Archiv gefunden hatte.
Aus dem Südsudan sei er geflüchtet, als zwischen dem Norden und dem Süden das Landes ein Krieg ausbrach, erzählte mir Dr. Schumann. In Ghana sei er sofort vom Gesundheitsministerium angestellt worden. Zuletzt war er Distriktsarzt in Kete Krachi in der Volta-Region im Osten des Landes.
Schumann bestätigte mir, dass letztlich immer einer an der jeweiligen deutschen Botschaft gewusst haben musste, wo er sich gerade aufhielt. Im Generalkonsulat im japanischen Osaka-Kobe hat er einen Pass beantragt und erhalten, im Sudan und später in Ghana musste er diesen verlängern lassen. Wenigstens einem Botschaftsmitarbeiter war immer klar, dass sich hier ein in Deutschland gesuchter Massenmörder versteckte.
Und ich saß nun neben diesem Mann, der mir ganz offen sagte: „Ja, es stimmt, ich war am Euthanasieprogramm auf dem Sonnenstein im sächsischen Pirna und im württembergischen Grafeneck beteiligt.” Er hatte zuvor vor dem Gericht in Accra, das über seine Auslieferung zu entscheiden hatte, zugegeben, während des Zweiten Weltkriegs die Tötung von 80.000 bis 120.000 geisteskranken Menschen überwacht zu haben. Das stand auch in der Agenturmeldung vom 4. November 1966.
„Was wollen Sie eigentlich über mich schreiben?”, fragte Schumann. „Meine Eindrücke, die ich beim Gespräch mit Ihnen gewinne”, antwortete ich.
„Was Sie da in diesen Konzentrationslagern gemacht haben, waren ja keine feine Sachen.”
„Nein, das waren keine feinen Sachen. Das mit der Euthanasieanklage, das ist richtig. Ich war der verantwortliche Mann in Grafeneck. Röntgen-Sterilisierungen habe ich auch gemacht, in Auschwitz ... Das war schlimm, was wir gemacht haben.”
Was dort durch Schumann und seine Mitarbeiter geschah, war von einer heute unvorstellbaren Brutalität. Es war gut, dass ich damals relativ wenig von dem wusste, was später bei dem Prozess gegen den Arzt herauskam. Dieser charmante Herr Dr. Schumann hatte erst Debile umbringen lassen, sonderte später arbeitsunfähige KZ-Insassen für die „Gasdusche” aus und hat dann Menschen mit Röntgenstrahlen sterilisiert. SS-Chef Heinrich Himmler habe eine billige Methode für Massenkastrationen rassisch minderwertiger Häftlinge gesucht und diese Versuchsreihen angeordnet, erzählte er mir im Flugzeug. Bei Männern seien die Hoden bestrahlt worden, bei Frauen die Eierstöcke. Wegen der hohen Röntgendosis habe das zu schrecklichen Verbrennungen