Peter Chemnitz

Ach los, scheiß der Hund drauf!


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wenn ich ihn ansah, saß da ein sanfter, außerordentlich sympathisch wirkender Opa, der Urwalddoktor, der 20 Jahre zuvor in Luftwaffen-Uniform als KZ-Arzt Tausende Menschen qualvoll verrecken ließ. Darunter auch einige Hundert jüdische Mädchen aus Griechenland.

      Er muss sich besonders geschickt angestellt haben und hat das wie Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, als Chance für seine wissenschaftliche Karriere gesehen. Da war keinerlei Gefühl der Menschlichkeit mehr, wenn er 14- bis 18-jährige jüdische Mädchen sterilisierte.

      „Wissen Sie, ich habe diese Verbrennungen nie gesehen. Es hat Kontrolloperationen gegeben, an diesen habe ich aber nie teilgenommen.”

      „Was geschah denn bei diesen Kontrolloperationen?” – „Nun, die Keimdrüsen mussten herausgeschnitten werden, damit man untersuchen konnte, ob die Röntgenbestrahlung erfolgreich gewesen war. Also, ob die Keimdrüsen durch die Bestrahlung wirklich unfruchtbar geworden waren. Das war in Block 10 in Auschwitz und geschah natürlich ohne Narkose. Dort liefen diese Versuchsreihen mit den griechischen Mädchen und mit Zigeunerkindern. Die armen Menschen.”

      Schumann hat das streng wissenschaftlich gesehen. Er fühlte sich als Arzt im Dienst der Wissenschaft. Und für den überzeugten Nationalsozialisten waren Juden und Zigeuner keine Menschen. Es gab durchaus die Anordnungen aus Berlin, aber er hat sie gern und mit Eifer umgesetzt. Seine Erklärung war ganz einfach: Er konnte sich der Sache nicht entziehen und es steckte eine aus seiner Sicht vernünftige Idee dahinter. Sicher, es seien Menschen umgekommen, aber gleichzeitig starben auch Zehntausende an der Front.

      Ich gab mir große Mühe, nicht nach dem Motto „Das ist ja schrecklich!“ über ihn herzufallen, und ließ ihn erzählen. Ich habe ihn auch nicht pathetisch nach dem hippokratischen Eid gefragt, aber schon, wie es dazu gekommen ist, dass er als Arzt diesen Drecksjob machen musste.

      Dr. Schumann erzählte, dass er 1930 in die NSDAP eingetreten und die nationalsozialistische Idee sein Leben gewesen sei. Und selbstverständlich seien alle Direktiven, die aus Berlin vom Führer oder vom Reichsführer der SS gekommen seien, Befehle gewesen, die er zu befolgen hatte. Eigentlich habe er Pilot werden wollen, erzählte Schumann. Aber er habe sich als Luftwaffen-Oberleutnant die Hand gebrochen und dann sei diese erste Aufforderung aus der Reichskanzlei an ihn als besonders fähigen Mediziner gekommen, in Grafeneck die von Hitler angeordnete Aktion „Gnadentod” umzusetzen. Als „unheilbar krank” geltende Deutsche sollten umgebracht werden. Wie später die Staatsanwaltschaft ermittelte, waren unter Verantwortung Dr. Schumanns in Grafeneck seit 1940/41 829 und später in Sonnenstein 13 720 Geisteskranke ermordet worden.

      Auch von seiner Familie erzählte er. Von seiner ersten Frau hatte er sich 1943 scheiden lassen. Die zweite war Krankenschwester in Pirna gewesen und wusste also ganz genau, was für Verbrechen da stattgefunden hatten. Sie war Schumann nach Afrika gefolgt, hatte es dort aber nicht ausgehalten. Sie lebt jetzt unter einem anderen Namen in einer deutschen Großstadt.

      Schumann fragte mich, ob ich Grüße an sie übermitteln könnte, denn er werde wohl lebenslänglich zu Zuchthaus verurteilt. Ich musste ihm versprechen, die Adresse nicht journalistisch zu verwenden und er gab mir die Anschrift der Frau in Berlin.

      Zwei Stunden hat er im Flugzeug erzählt, dann wurde er müde und schlief ein. Die Maschine kam frühmorgens in Frankfurt am Main an. Ich sagte ihm, dass heute in Deutschland Buß- und Bettag sei, damals ein bundesweiter Feiertag. Er sagte daraufhin etwas pathetisch: „Am Bußtag kehre ich nach Deutschland zurück. Das ist ja sehr symbolkräftig. Ich weiß, ich kriege lebenslänglich.”

      Auf dem Flugfeld wartete eine Schar von mindestens 50 Fotografen. Ich stieg neben Dr. Schumann die Gangway herunter. Das sah so aus, als wäre ich einer der Kriminalbeamten. Es war auch kein Journalist da, der mich kannte. Ich flog noch am selben Vormittag von Frankfurt nach Berlin, um mit Schumanns Frau zu sprechen. Die lebte mit den beiden Söhnen in einer Schrebergartenkolonie. Ich richtete die Grüße aus und bekam ein paar Informationen über das gemeinsame Leben in Afrika. Sie war schon 1965 nach Deutschland zurückgekehrt.

      Anschließend fuhr ich zurück nach Hamburg und habe die Geschichte geschrieben.

      Was mich noch heute beschäftigt: Dieser Mann war einer der ganz großen schrecklichen Mörder der Nazis. Aber wenn ich heute Fotos von damals sehe, dann sieht der Herr aus wie ein Nobelpreisträger für Medizin oder Literatur.

      Ich halte es für möglich, dass Schumann auf seiner Flucht bewusst nach Afrika ging, um als Urwalddoktor etwas von dem wiedergutzumachen, was er während des Nationalsozialismus Menschen angetan hatte. Er hätte sich ja auch, wie viele andere Kriegsverbrecher, unter einem anderen Namen nach Südamerika absetzen können. Aber er blieb Dr. Horst Schumann und lebte quasi auf Abruf. Jederzeit hätte einem Auslieferungsantrag stattgegeben werden können.

      Ohne Zweifel hat er den Menschen im Südsudan und in Ghana sehr geholfen. Urwalddoktoren wurden von den Afrikanern bewundert, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass jemand freiwillig aus gesicherten europäischen Verhältnissen zu ihnen kommt, um zu helfen. Dass er auf die Menschen wie ein Homo sympathico wirken konnte, das ist mir im Gefängnis in Ghana klar geworden, als wir ihn abholten und seine Zellengenossen in Tränen ausbrachen. Vielleicht wäre aus Schumann ohne den Nationalsozialismus ein guter Arzt geworden; so aber wurde er zu einem der schlimmsten Verbrecher – allerdings zu einem, der im Gegensatz zu Josef Mengele in Vergessenheit geraten ist.

      Bei dem Gespräch in der Nacht im Flugzeug hatte ich aber nicht den Eindruck, dass ihm die Tragweite seiner Euthanasietätigkeit und auch der Zustände in den Konzentrationslagern richtig bewusst gewesen ist.

      Die erfolgreiche Geschichte über Schumann hat meine weitere Zeit beim „stern” positiv beeinflusst. Obwohl es auch in diesem Fall eine hitzige Diskussion in der Redaktionskonferenz gegeben hatte. Der „stern” war damals zwar in der Führungsebene mit lauter ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt, steuerte aber auf einen linken Liberalismus zu. Ich erinnere mich noch an die Frage des berühmten Erich Kuby, Autor und Filmemacher, ob wir denn einen NS-Massenmörder so menschlich darstellen könnten. Es war diese klassische Frage. „Ja”, sagte ich, „denn es lässt sich nicht bestreiten, dass das ein Mensch war.” Später hat Marcel Reich-Ranicki auf eine derartige Frage ähnlich geantwortet: Natürlich sei Hitler ein Mensch gewesen und kein Elefant.

      In der „stern”-Redaktion fand die Mehrheit der Kollegen die Geschichte gut. Es sei richtig zu zeigen, wie normal diese Typen nach außen hin waren, obwohl sie für die Ermordung von mindestens 30.000 Menschen verantwortlich sind.

      Übrigens hatte sich Dr. Schumann in den westdeutschen Justizbehörden gründlich geirrt. Zwar saß er vier Jahre in der hessischen Strafvollzugsanstalt Butzbach in Untersuchungshaft, das vor dem Landgericht Frankfurt im September 1970 eröffnete Verfahren gegen ihn wurde aber schon sieben Monate später eingestellt. Der frühere KZ-Arzt galt wegen seines ständig extrem hohen Blutdrucks als verhandlungsunfähig. Im Juli 1972 wurde er endgültig entlassen und lebte bis zu seinem Tod 1983 unbehelligt in Frankfurt.

      Das hatte durchaus System. Auch Gerhard Bohne, Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten” und als Chef der Aktion „T 4“ zur Liquidation von Geisteskranken Vorgesetzter von Schumann, wurde 1968 für verhandlungsunfähig erklärt.

      Atombombensuche im ewigen Eis

      Am 21. Januar 1968 kam es in Grönland zu einem atomaren Zwischenfall. „Broken Arrow“ hieß das US-Codewort dafür. Und dieser „gebrochene Pfeil“ löste weltweit in den Redaktionen der großen Nachrichtenmagazine hektische Betriebsamkeit aus. Schnell war bekannt, dass eine achtstrahlige B 52 des strategischen Bomberkommandos der US-Air Force in der Nähe der amerikanischen Air Base Thule mit vier Wasserstoffbomben an Bord abgestürzt sei. Die Nähe zum Stützpunkt deutete darauf hin, dass der Pilot noch eine Notlandung versucht hatte. Diese riesigen Maschinen waren damals nahezu ununterbrochen in der Luft, wurden sogar während des Fliegens aufgetankt.

      In der Redaktion des „stern“ wurde die Entscheidung gefällt: Wir müssen da hin. Als Reporter wurden der Fotograf Fred Ihrt und ich ausgewählt. Allerdings teilte mir der Presseattaché