Philipp war mit einer Tochter des Herzogs Georg von Sachsen verheiratet, von der er mehrere, ungewöhnlich tüchtige Kinder hatte, die er aber, ungeachtet aufrichtiger Hochachtung, nicht liebte. Er gewöhnte sich deshalb an außereheliche Beziehungen, rechnete sich das aber so sehr als Schuld an, daß er jahrelang nicht das Abendmahl zu nehmen wagte. Als es nun dazu kam, daß er sich ernstlich in ein Hoffräulein verliebte, das ohne Heirat nicht die Seine werden wollte, erinnerte er sich einer gelegentlichen Bemerkung Luthers, nach der Bibel sei Vielweiberei nicht verboten, und gründete darauf den Plan, sich die Geliebte als Nebenfrau antrauen zu lassen. Er betrieb die Angelegenheit mit dem Ungestüm und der liebenswürdigen Ehrlichkeit, die ihm eigen war, und brachte Luther dahin, ihm die Erlaubnis zur Doppelehe zu erteilen, in der Art, wie wohl die Päpste den Fürsten in ihren Eheschwierigkeiten behilflich waren. Es wurde Luther nicht leicht, sich zum Bürgen für eine Sache zu machen, gegen die zwar vom Buchstaben der Heiligen Schrift aus nichts einzuwenden war, die aber doch berechtigten Anstoß erregen mußte; was ihn bewog, sich dazu herzugeben, war seine Zuneigung für Philipp, hauptsächlich aber dessen Drohung, er werde sich an den Papst wenden, wenn der Reformator ihm Hilfe verweigere. So schnell schlug der Landgraf in den Wind, daß er noch kürzlich seine Habe und sein Leben an seinen Glauben hatte setzen wollen und entrüstet war, wenn andere sich etwas vorsichtiger zurückhielten. Luther glaubte dem Unheil dadurch die Spitze abbrechen zu können, daß er die Bedingung stellte, es dürfe von dem Vorgang nichts in die Öffentlichkeit dringen; als er trotzdem sofort bekannt wurde, und Luther und mit ihm Melanchthon aufs schlimmste bloßgestellt wurden, verwickelte er sich immer tiefer in Unrecht, indem er von Philipp verlangte, er solle das Geschehene ableugnen, so daß der Landgraf, der sich entrüstet weigerte zu lügen, ehrenhafter dastand als der Reformator: Es war etwas geschehen, was nicht wiedergutzumachen war. Die Feinde triumphierten über den sittlichen Fall der Gegner, und der Zweck, um deswillen der falsche Schritt getan war, wurde nicht erreicht. Gerade damals hatte der Landgraf das neue kaiserliche Strafgesetzbuch, die Carolina, in Hessen eingeführt, das auf Bigamie die Todesstrafe setzte; es mag den freudigen Fürsten ein Schauder überlaufen haben, als ihm klar wurde, wohin seine Doppelehe ihn führen könnte. Dem Kaiser war es eher, als den Theologen zu verzeihen, wenn er über dem Unrecht ein Auge zudrückte, um es staatsmännisch auszunutzen. Für ihn war es ein Glück, daß in den Schmalkaldischen Bund ein auflösendes Gift getropft war. Philipp, der vor einigen Jahren mit Zwingli einen Weltbund aller Evangelischen geplant hatte, versprach jetzt dem Kaiser, nicht zu dulden, daß außerdeutsche Mächte in den Schmalkaldischen Bund aufgenommen würden, so daß der Anschluß Englands, Schwedens, Dänemarks unterbleiben mußte, und der Herzog von Cleve, der im Begriff war, sein Land zu reformieren, wurde preisgegeben, wodurch ein großes und wichtiges Gebiet am Niederrhein den Protestanten verlorenging. Immerhin breitete sich die Reformation weiter und weiter aus. Durch den Tod Georgs von Sachsen, ihres erbittertsten und zugleich tüchtigsten Gegners unter den deutschen Fürsten, ging das Herzogtum Sachsen an seinen evangelischen Bruder über, auf dieselbe Art wurden Pfalz und Brandenburg evangelisch. Durch einen strammen Kriegszug führte Philipp von Hessen den vertriebenen Herzog Ulrich nach Württemberg zurück, der in der Verbannung Protestant geworden war und sein Land sofort reformierte. Als der Erzbischof von Köln, Hermann von Wied, die Reformation in seinem Lande einzuführen beschloß, wenn auch im Gegensatz zu Domkapitel und Universität, hatte es den Anschein, als sollte ganz Deutschland für den neuen Glauben gewonnen werden. Auch in Bayern, und namentlich in Österreich, hatten sich viele vom Adel ihm zugewendet.
Dieser Sieg des Evangeliums hätte den alten Reformator befriedigen können, blickten doch alle, Feinde wie Freunde, auf ihn als den Meister des Werks. Das Werk aber war, während es sich ausbreitete, im Innern nicht gereift. Die Klage über Unsittlichkeit und Roheit in den evangelischen Gebieten war allgemein. Augenscheinlich hatte die Auflösung der altgewohnten kirchlichen Aufsicht zu einem Ausbruch sinnlicher Ausgelassenheit geführt, der die früheren Ausschreitungen weit übertraf. Neben den groben Lastern erschreckte die unmäßige Geldgier, daß jeder alles an sich reißen und für sich allein haben wollte, und die Zunahme der Glaubenslosigkeit. Trotz des vielen Predigens wandte sich das Volk in allen Schichten vom Himmel ab und der Welt zu. Die Geistlichen waren verachtet und verhaßt; könnte man sie Hungers sterben lassen, sagte Luther, so täte man's am allerwilligsten, könnte man sie zum Lande hinausjagen, so täte man's noch lieber. Wenn die Leute von Gott hörten, achteten sie es so viel, als wäre es eines Gauklers Märlein, sie schlügen das Evangelium in den Wind, als habe es nicht die hohe Majestät vom Himmel, sondern irgendein Schuster gesagt. Es war von den Kanzeln so viel über die Betrügerei der Pfaffen gepredigt, daß man nun Kirche und Religion miteinander für einen Trug zur Unterdrückung des Volkes hielt. Luther, der geglaubt hatte, der Christenheit und insbesondere den Deutschen mit dem Evangelium ein überschwenglich kostbares Geschenk zu machen, erklärte sich die Undankbarkeit, der er begegnete, durch die rohe Gefühllosigkeit der Deutschen. Von den Bauern hatte er niemals viel gehalten, ebensowenig von den Fürsten, nun verwarf er die Deutschen alle miteinander: die barbarische, wahrhaft bestialische Nation, die schändlichen heillosen Säue, halb Teufel, halb Mensch. Dennoch war es sein Volk, und wenn er es nicht geliebt und sich für es verantwortlich gefühlt hätte, würde ihn der Anblick seiner Entartung nicht so tief geschmerzt haben. Die Bemerkung der Bibel, daß das Ende der Zeiten sich durch das Überhandnehmen aller Laster anzeige, bestärkte ihn, wie auch andere, in dem Vorgefühl eines nahen Unterganges. So war es, sagt er, vor der babylonischen Gefangenschaft, so vor der Zerstörung Jerusalems, so vor der Verwüstung Roms. Er, der den Untergang des mittelalterlichen Reiches hatte aufhalten wollen, hatte ihn wider seinen Willen gefördert und brach unter seinen Trümmern zusammen.
Besonders erbittert war Luther über die Fürsten, die er, wie er selbst sagte, zu Göttern gemacht hatte und die ihre durch ihn vermehrte Macht und ihr Ansehen nicht benutzten, um ihren Untertanen ein gutes Beispiel zu geben, um sie zu erziehen, sondern um sie zu schätzen, so daß die meisten Fürstentümer nichts anderes wären als Rentereien und Zollhäuser. Als es sich einmal um ein Bündnis mit Heinrich VIII., dem König von England, handelte, schrieb Butzer an Philipp von Hessen: »Der König ist, wie er ist, und andere Fürsten sind auch, wie sie sind.« Das sollte heißen: sie taugen allesamt nichts, wollte man sie nach einem moralischen Maßstab beurteilen wie andere Menschen, könnte man sich überhaupt mit keinem einlassen. Fast ohne Ausnahme waren die protestantischen Fürsten dem Trunk ergeben, es kam vor, daß sich einer buchstäblich zu Tode soff. Luther mußte es erleben, daß sich sogar der kursächsische Hof übler Nachrede aussetzte. Auf Johann den Beständigen, den von allen Verehrten, folgte sein Sohn Johann Friedrich, mit dessen geistiger Plumpheit schon sein Lehrer Spalatin nicht hatte fertig werden können. Sein Vetter Moritz nannte ihn die dicke Hoffart. Luther machte kein Hehl daraus, daß er ihn für einen Esel hielt. Gottes Wunder erben nicht, so übersetzte Luther das lateinische Wort, daß die Söhne der Heroen entarten. Luthers Urteil, mit Friedrich sei die Weisheit, mit Johann die Frömmigkeit dahingegangen, ist um so auffallender, als Johann Friedrich, im Luthertum aufgewachsen und erzogen, dem neuen Glauben mit besonderem Nachdruck und unentwegter Treue anhing; aber es machte sich bemerkbar, daß seiner Gläubigkeit ein guter Teil Starrsinn und Beschränktheit beigemischt war. Er regierte zuweilen mit der Faust sowohl in die Religion wie in die damals so subtile Politik hinein. Im allgemeinen war das Luthertum, nachdem es zwanzig Jahre bestanden hatte, zu einer festen Einrichtung geworden, mit politischen und sozialen Dingen verknüpft, an der mit mehr Selbstverständlichkeit, aber mit weniger Glaubensinnigkeit festgehalten wurde als früher. Gab es auch viel Fromme, denen es ein Bedürfnis war, sich in die Bibel zu vertiefen, so war doch das Evangelium und das Wort Gottes, das beständig im Munde geführt wurde, ein Schlagwort geworden, bei dem die meisten nichts mehr als ihr Parteibewußtsein empfanden. Auch die sich mehrenden theologischen Streitigkeiten über die Lehrbegriffe gingen mehr aus Gelehrteneitelkeit und Rechthaberei hervor als aus Liebe zur Wahrheit. Auf den alternden Luther drückte die ungeheure Arbeitslast mehr als früher. Schon im Jahre 1519 klagte er einmal gegen Spalatin, der eine Abhandlung über irgendeine theologische Frage von ihm verlangte, über Überbürdung: er habe Vorlesungen an der Universität und Predigten in der Kirche zu halten, seine Bibelübersetzung zu fördern und eine Menge Briefe an fremde Leute zu schreiben, die sich an ihn wendeten. »Ich bin doch wirklich bloß ein Mensch, ein einzelner Mensch«, schrieb er damals. Wie hatten sich inzwischen die Ansprüche vervielfacht! Wer ist schwach und ich werde nicht schwach, wer wird geärgert und ich brenne nicht, konnte er mit dem Apostel sagen. Nicht