Ricarda Huch

Michael Unger


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Mitleid für seinen Vater stieg in ihm auf. Als sie am Dome vorbeikamen, schlug es Mitternacht, und sie blieben unwillkürlich stehen, um die Glockenschläge zu zählen; ihre Schatten und die der Türme fielen dunkelgrau und scharf umrissen auf den leeren Platz. »Lieber Papa«, sagte Michael, indem sie weitergingen, »ich glaube, es tut Arnold Meier jetzt schon leid, was er angerichtet hat; denn er ist nicht so eingebildet und anspruchsvoll, wie du glaubst, und sicherlich mit der Zeit dir und uns Kindern ein treuer Freund geworden. Du solltest so schwere Gedanken nicht in dir aufkommen lassen, da du doch mit mehr Genugtuung als viele andere auf dein vergangenes Leben und auf die Gegenwart blicken kannst. Du hast deiner Familie eine Grundlage des Glückes geschaffen, worauf wir weiterbauen werden, während es für dich Zeit wird, mehr zu genießen als zu arbeiten und des Deinigen froh zu werden.«

      Allmählich beruhigte sich der aufgeregte Mann, aber sein heißes Gesicht behielt den schwermütig stieren Ausdruck. Michael war unruhig und wollte ihn in sein Schlafzimmer begleiten, ihm beim Auskleiden helfen und warten, bis er eingeschlafen wäre, doch da sein Vater darauf beharrte, keine Hilfe nötig zu haben, blieb er noch eine Weile lauschend vor der Tür stehen. Er hatte fast das süße Gefühl vergessen, das ihn bei Roses hilfesuchendem Anblick plötzlich überkommen hatte.

      Es überraschte Michael nicht, daß Rose am folgenden Morgen erklärte, abreisen zu müssen. Das Bild des kleinen Mario war bereits vollendet, und sie hatte auf vieles Bitten nur noch einige Tage zugegeben, um die Eröffnung des Basars mitzumachen, und es fiel nicht auf, daß sie nun sagte, die Unruhe, an ihre Arbeit zu kommen, triebe sie fort; auch war bei der allgemeinen Abspannung, und da noch dazu der Verkauf im Basar weiterging, keine Gelegenheit, auf ihr Bleiben zu dringen und Umstände wegen ihrer Abreise zu machen. Raphaels Anerbieten, sie zur Bahn zu begleiten und ihr behilflich zu sein, nahm sie gern an, und es verstand sich von selbst, daß Michael sich nicht auch noch anschloß. Er nahm im Beisein der anderen von ihr Abschied und wunderte sich selbst, daß er eher ein Gefühl von Erleichterung als von Schmerz verspürte, als sie das Haus verlassen hatte.

      Michael hatte keinen Augenblick geglaubt, er sähe Rose zum letzten Male, wenn er auch nicht wußte, auf welche Weise ein Wiedersehen mit ihr herbeigeführt werden sollte. Den Tag ihrer Abreise und den folgenden verlebte er mit abwesendem Geiste und nur äußerlichem Anteil an allem, was vorging. Er brachte, weil es gewünscht wurde, mehrere Stunden auf dem Basar zu, und der Anblick seiner Mutter in dem weißen Samtkleide, das mit Perlen behängt war, seiner Frau in dem kostbaren Pelzwerk, aus dem einige verstreute Diamanten funkelten, der beständig ausströmende starke Geruch von Lilien und Tuberosen, alles das versetzte ihn in eine seltsame Betäubung. Man hätte ihm in einigen Augenblicken sagen können, er befinde sich auf einem mondbeschienenen Kirchhof zwischen verlarvten Gespenstern; er konnte die Empfindung nicht loswerden, als wäre zwischen ihm und eben diesen Figuren ein großer Zwischenraum, so daß er sie niemals leibhaftig berühren könnte.

      Wenige Tage später fielen in einer Nacht heftige Regenströme, von Stürmen begleitet, die den Schlaf beunruhigt hatten, und am andern Morgen schien die Sonne warm und strahlend, wenn der Wind auch noch nicht ruhte. An diesem Morgen schlug Michael, anstatt in das Geschäft zu gehen, den Weg zum Bahnhofe ein, obgleich er noch nicht eigentlich entschlossen war, Rose nachzureisen. Er wußte, daß sie zunächst nach einem kleinen Ort am Bodensee hatte gehen wollen, und diese Tatsache hatte ihm, solange sie fort war, unablässig vor Augen gestanden. Er ging auch an diesem Morgen im Grunde nur der Tatsache nach, bis ihn plötzlich, als er vor dem Schalter stand, wo er die Karte lösen mußte, die stürmende Gewißheit ergriff, er müsse sie wiedersehen und den Abschied von ihr nehmen, den er nicht hatte nehmen können, als sie fortreiste. Seine Stimmung veränderte sich so, daß, nachdem er eben noch in halb unbewußtem Traume hingeschlendert war, jetzt ein gespanntes, verzweifeltes Wollen in ihm brannte, das ein Scheitern seines Planes von vornherein unmöglich machte. Als er seinen Wagen gefunden hatte, warf er sich zuerst in die der offenen Tür gegenüberliegende Ecke, sprang aber sogleich wieder auf und stellte sich auf das Trittbrett, um alle, die kamen und einstiegen, zu sehen. Von Zeit zu Zeit glitt sein Blick nach der Bahnhofsuhr, deren Zeiger nicht von der Stelle zu rücken schien; jeden Augenblick konnte sein Vater, sein Bruder oder sonst jemand kommen und ihn fragen: Wohin willst du? Du darfst nicht! Bleibe hier! Er war nicht imstande, sich eine Entgegnung für solchen Fall auszudenken, aber das stand fest in ihm, daß es keiner Macht gelingen sollte, ihn von seinem Platze wegzureißen. Je wilder sein Herz klopfte, desto starrer und blässer wurde sein Gesicht, nur seine Augen flammten; trotz der Eile, mit der alle Leute kamen und gingen, blickte sich zuweilen einer um und sah ihn verwundert an. Als die Uhr noch eine Minute bis zur Abfahrt zeigte, war seine Aufregung so groß, daß er sich unwillkürlich fester an den Türgriff klammerte; dann kam der Schaffner, um die Tür zuzuschlagen, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Da der Wagen leer geblieben war, warf er sich in eine Ecke und schlief fast augenblicklich ein, so vollständig erschöpft war er, wachte aber nach einer Stunde wieder auf und nahm mit Entzücken die verwandelte Gegend wahr, an der er vorüberfuhr. Er fuhr zu Rose; nur das fühlte er, nichts von allem, was hinter ihm lag. Noch niemals hatte er sein eigenes Ich so leibhaftig gegriffen; was in ihm webte, wallte, klopfte und drängte, was er als mechanische Vorgänge nie beachtet hatte, rauschte zu einem starken Leben zusammen, das er mit Wonne als sein eigen empfand. Die Menschen, die ihm teuer gewesen waren, was ihm früher wichtig erschienen war, alles verblaßte gegenüber dem Antlitz des Gottes oder Dämons, das in seinem Innern sich zu enthüllen im Begriffe war. Erst als die Sonne über Mittag stand und er die Stunden zählte, bis er am Ziele wäre, trat das Tatsächliche wieder in den Vordergrund, wenn auch nur insofern, als es auf Rose Bezug hatte. Er fragte sich, ob er sie überhaupt finden, und wenn er sie fände, wie sie ihn aufnehmen würde? Denn was berechtigte ihn, zu glauben, daß er ihr teurer wäre als irgendein anderer, da sie ja alles Lebendige liebte? Eine gewisse Neigung ihres Blickes konnte seiner Schönheit gegolten haben, die ihm nun einmal anhaftete, wie sie ja auch Malvens und Verenas und vieler anderer Schönheit geliebt hatte. Sehnsucht nach ihr überwallte ihn ganz, Sehnsucht, seine Seele in ihre Augen überströmen zu lassen, sich selbst aus ihren schönen, schaffenden Händen zu empfangen. Wenn er bedachte, daß er nicht glückbringend zu ihr kam, nicht, um frei um sie zu werben, sondern heimlich, flüchtig und frevlerisch, mußte er auch die Möglichkeit erwarten, daß sie ihn mit Verachtung von sich stieß; und wenn er das auch am wenigsten glauben konnte, so preßte ihm doch das Bewußtsein seiner bettlerhaften Niedrigkeit das Herz bis zum Weinen zusammen, und er mußte sich hilflos wie ein Kind seinen Tränen hingeben.

      Es brachte ihn wieder zu sich selbst, daß er, nun doch am Ziele angelangt, etwas vornehmen mußte, um sie zu finden. Dies war nicht schwierig, da es in der kleinen Ortschaft nur wenige Gasthöfe gab, wo Fremde etwa absteigen konnten, und so traf sich's, daß ihm schon im ersten, wo er nachfragte, geantwortet wurde, die betreffende junge Dame wohne da, sei aber ausgegangen, vermutlich an den See, und werde nicht vor dem Nachtmahl zurückkommen. Er schlug den nächsten Weg zum See ein und sah sie bald auf einer hölzernen Bank dicht am Ufer sitzen; wie er unwillkürlich stockenden Herzens stehenblieb, drehte sie sich um, da sie das Geräusch seiner Schritte auf dem Kies gehört hatte, und sah ihn mit Augen voll Schrecken und Freude an. In diesem Augenblick überfiel ihn eine fürchterliche Bangigkeit, ein unerklärliches Entsetzen, als ob ein Geisterblick sich vor ihm auftäte und ihn warnte; aber indem er, um diesem Weh des Todes zu entfliehen, fortstürzen wollte, sah er wie durch Nebelflor ihre Hand, die sie zur Begrüßung nach ihm ausgestreckt hatte, ging vorwärts auf sie zu und setzte sich neben sie auf die Bank.

      Die Sonne war noch nicht untergegangen, stand aber hinter schwerem grauen Gewölk, das nur ein schwaches gelbliches Licht hindurchließ; wo in der Ferne die Berge lagen, zuckte in schwarzblauer Wolkenmasse hier und da langsam ein weißes, breites Wetterleuchten. Der Wind, der den Tag über in matten Stößen sich bewegt hatte, begann tiefer zu atmen und trieb die Wellen rasch und hoch dem Strande entgegen. Auf den dunkelgrünen Leibern wälzte sich der springende Schaum und erfüllte die Luft mit blitzendem Wasserstaube; wie ein Meer schwoll es näher und näher, bäumte sich hoch und zerschmetterte klingend im Sturz am Ufer. »Was denkst du?« fragte Michael leise, da sie mit vorgebeugtem Haupte dem Wasser entgegenzuverlangen schien. »Ich höre die Musik der Brandung«, antwortete sie. »Es ist meine Seele, die deine Füße umarmen will«, flüsterte er hingerissen, indem er sich von der Bank heruntergleiten ließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Sie neigte ihr Gesicht dicht