Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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(»ce que j’ai le plus aimé, était la rêverie«) und kann doch nicht leben ohne ihr Gegenspiel, ohne die Wachheit (»Si je ne vois pas clair, tout mon monde est anéanti«). Genau wie Goethe einmal von sich bekennt, daß das, was man gemeinhin Genuß nenne, »für ihn immer zwischen Sinnlichkeit und Verstand schwebe«, so empfindet Stendhal nur dank der feurigen Durchmischung von Geist und Blut die sinnvolle Schönheit der Welt. Er weiß, daß nur der ständigen Reibung seiner Kontraste die seelische Elektrizität entstammt, jenes Prickeln und Funkeln in den Nervenbahnen, jene knisternde, spannende und aufstachelnde Lebendigkeit, die wir heute noch spüren, kaum daß wir ein Buch, ein Blatt Stendhals berühren; nur dank dieses Überspringens der Vitalität von Pol zu Pol genießt er die Kraftwärme, die schöpferische und lichtschaffende seines Wesens, und sein immer wacher Selbststeigerungsinstinkt setzt alle Leidenschaft daran, sich diese Weitspannung zu erhalten. Unter seinen zahlreichen außerordentlichen Beobachtungen in psychologicis äußert er einmal die vortreffliche, ebenso wie unsere Körpermuskeln ständiger Gymnastik bedürfen, um nicht zu erschlaffen, müßten auch die psychischen Kräfte unablässig geübt, gesteigert und durchgebildet werden: diese Vervollkommnungsarbeit hat Stendhal mit beharrlicherer Konsequenz als irgendein anderer geübt. Er hegt und pflegt beide Enden seines Wesens unablässig für den Erkenntniskampf mit der gleichen Liebe wie ein Künstler sein Instrument, wie ein Soldat seine Waffe; unablässig ist er mit dem Training seines seelischen Ichs beschäftigt. Um die Hochspannung des Gefühls, den »érectisme morale«, latent zu erhalten, heizt er seine Expansionsfähigkeit allabendlich in der Oper durch Musik an und agitiert sich noch als älterer Herr gewaltsam in immer neue Verliebtheiten hinein. Um seinem Gedächtnis, bei dem er Spuren von Schwäche wahrnimmt, zur Exaktheit zu verhelfen, legt er sich besondere Exerzitien auf, er schleift, wie jeden Morgen sein Rasiermesser, am Strange der Selbstbeobachtung seine Wahrnehmungsfähigkeit. Er sorgt mit Büchern und Gesprächen alltäglich für Zufuhr von »ein paar Kuben neuer Ideen«, er füllt, er erregt, er spannt und zügelt sich zu immer subtilerer Intensität; unablässig schärft er seinen Verstand, unablässig schmeidigt er sein Gefühl.

      Dank dieser wissenden und raffinierten Technik der Selbstvervollkommnung erreicht Stendhal intellektuell sowohl als sensuell einen ganz ungewöhnlichen Grad seelischer Feinfühligkeit. Man muß schon jahrzehnteweit in der Weltliteratur zurückwandern, um ein ähnlich zartempfindliches und zugleich scharfgeistiges Sensorium zu finden, eine so dünnhäutige, nervenbebende Sinnlichkeit bei so wasserklarem und wasserkaltem Verstand. Aber freilich, nicht ungestraft hat man seine Nervenspitzen derart zart und vibrierend, dermaßen wissend und wollüstig knapp unter der Haut; Feinheit bedingt immer leichte Verletzlichkeit, und was für die Kunst Gnade, wird für die Künstler fast immer zur Lebensnot. Wie leidet dieses überorganisierte Wesen Stendhal an seiner Umwelt, wie steht er fremd und verdrossen inmitten einer larmoyanten und pathetischen Zeit! Ein solches intellektuelles Taktgefühl muß jede Ungeistigkeit als Beleidigung, eine so romantische Seele die Dickhäuterei, die ethische Trägheit des Durchschnitts als einen Alpdruck empfinden; wie die Prinzessin im Märchen unter hundert Daunen und Decken die Erbse, so spürt Stendhal schmerzhaft jedes falsche Wort, jede verlogene Geste. Alles falsch Romantische, alles plump Übertreibliche, alles feig Verschwommene wirkt auf seinen wissenden Instinkt wie kaltes Wasser auf einen kranken Zahn. Denn sein Gefühl für Aufrichtigkeit und Natürlichkeit, sein geistiges Kennertum leidet gleicherweise am Zuviel und Zuwenig in jeder fremden Empfindung – »mes bêtes d’aversion, ce sont le vulgaire et l’affecté« – an dem Banalen ebenso wie am Preziösen. Eine einzige Phrase, zu übersüßt mit Gefühl oder aufgequollen in pathetischer Hefe, kann ihm ein Buch verderben, eine ungeschickte Bewegung das schönste erotische Abenteuer. Einmal betrachtet er ergriffen eine Napoleonische Schlacht: das mörderische Durcheinander, durchschüttert vom Donner der Kanonen, überglüht vom unverhofften Farbenspiel eines Sonnenunterganges in blutigen Wolken, wirkt auf seine künstlerische Seele unwiderstehlich wie ein Nervenrausch. Er steht da und zittert erregt in mitfühlenden Schauern. Da fällt es unglückseligerweise einem General neben ihm ein, dieses überwältigende Schauspiel mit einem großspurigen Wort zu bezeichnen »Eine Gigantenschlacht!« sagt er wohlgefällig zu seinem Nachbar, und sofort zerschmettert dieses eine plumppathetische Wort für Stendhal jede Möglichkeit der Mitempfindung. Hastig eilt er weg, den Tölpel verfluchend, erbittert, enttäuscht, beraubt; immer, wenn sein hyperempfindlicher Gaumen den geringsten Beigeschmack von Phrase oder Verlogenheit im Ausdruck eines Gefühls spürt, revoltiert sein Taktgefühl. Unklares Denken, überschwengliche Rede, jedes Affichieren und Auswalzen der Empfindung verursacht diesem Sensibilitätsgenie sofort ästhetischen Brechreiz: darum kann er auch so wenig von aller Zeitgenossenkunst goutieren, weil sie damals besonders süß-romantisch (Chateaubriand) und pseudoheroisch (Victor Hugo) drapiert ist, darum erträgt und verträgt er so wenig Menschen. Aber diese exzessive Überempfindlichkeit wendet sich nicht minder gegen ihn selbst. Überall, wo er sich bei der winzigsten Empfindungsabweichung, bei einem unnötigen Crescendo, bei einem Hinüber ins Sentimentale oder bei einer feigen Verschwommenheit und Unehrlichkeit ertappt, schlägt er sich selbst wie ein strenger Schullehrer auf die Finger. Sein immer wacher und unerbittlicher Verstand schleicht ihm nach bis in die abseitigsten Träumereien und reißt ihm rücksichtslos alle Schamhüllen fort. Selten hat sich ein Künstler derart gründlich zur Ehrlichkeit erzogen, selten ein Seelenbeobachter so grausam seine geheimsten Abwege und Labyrinthe überwacht.

      Weil er sich dermaßen kennt, weiß Stendhal selbst besser als jeder andere, daß diese übermäßige Sensibilität in Nerven und Geist sein Genie, seine Tugend ist und seine Gefahr. »Ce que ne fait qu’effleurer les autres me blesse jusqu’au sang«: was die anderen nur leise anstreift, das verletzt ihn, den Überempfindlichen bis aufs Blut. Und darum empfindet Stendhal die »Andern«, »les autres«, instinkthaft von Jugend an als den polaren Gegensatz zu seinem Ich, als Angehörige einer fremden Seelenrasse. Dieses Anderssein hat schon ganz früh der kleine linkische Knabe in Grenoble an sich gespürt, wenn er seine Mitschüler in gedankenloser Froheit herumpoltern sah, und noch schmerzlicher hat dies später der frischgebackene Unteroffizier Henri Beyle in Italien erfahren, der, neidisch und hilflos, sie nachzuahmen, die andern Offiziere bewunderte, wie sie die Mailänder Weiber kirre zu machen und großsprecherisch selbstbewußt ihre Säbel zu rasseln verstanden. Aber damals hatte er sich seines Zarterseins, seiner Verlegenheit und Feinfühligkeiten noch als eines männlichen Defektes, als einer kläglichen Minderwertigkeit geschämt. Jahrelang hat er versucht – höchst lächerlich und vergeblich! –, seine Natur zu vergewaltigen, dem lauten Pöbel laut nachzuprahlen, nur um diesen grobschlächtigen Gesellen ähnlich zu scheinen und ihnen zu imponieren. Erst allmählich, sehr mühsam, sehr schmerzhaft, entdeckt der Emotive in seinem unheilbaren Anderssein einen melancholischen Reiz: der Psychologe erwacht. Stendhal ist allmählich auf sich neugierig geworden und beginnt sich zu entdecken. Zunächst konstatiert er nur, daß er anders ist als die meisten, feiner organisiert, empfindlicher, hellhöriger. Keiner ringsum fühlt so leidenschaftlich, keiner denkt so klar, keiner ist so sonderbar gemischt, daß er fähig ist, allorts das Feinste zu fühlen und trotzdem nicht das geringste im Praktischen zu erreichen. Zweifellos, es muß noch andere Menschen dieser merkwürdigen Spezies »être supérieur« geben, denn wie könnte er sonst Montaigne verstehen, diesen herben, grundklugen und für alles Breite, Grobe verächtlichen Geist, wenn es nicht seiner Art gemäß wäre, wie Mozart zu fühlen, wenn nicht gleiche Leichtigkeit der Seele in ihm waltete. So beginnt etwa mit dreißig Jahren Stendhal erstmalig zu ahnen, er sei nicht ein mißglücktes Exemplar Mensch, vielmehr ein besonderes, zugehörig jener seltenen, sehr edlen Rasse der »êtres privilégiés«, die da und dort eingesprengt in den verschiedensten Nationen, Rassen und Vaterländern ihr Vorkommen haben wie Edelsteine in gemeinen Konglomeraten. Er fühlt sich bei ihnen beheimatet (nicht bei den Franzosen, er wirft diese Zugehörigkeit weg wie ein zu eng gewordenes Kleid), in einem andern, unsichtbaren Vaterlande, bei Menschen mit viel feineren Seelenorganen und klügeren Nerven, die niemals sich zusammenrotten zu plumpen Haufen und geschäftigen Klüngeln, sondern nur ab und zu einen Boten in die Zeit senden. Ihnen allein, diesen »happy few«, diesen hellhörigen und feinäugigen, diesen geschwinden Verstehern, die lesen können ohne Unterstreichungen und jeden Wink und Augenblick aus Instinkt des Herzens verstehen – ihnen allein schreibt er, über sein eigenes Jahrhundert hinweg, seine Bücher zu, ihnen allein verrät er in Spiegelschrift die Geheimnisse seines Gefühls. Was schert ihn, seit er endlich verachten gelernt, der grobe lautsprecherische Pöbel ringsum, dem nur dick