Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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der Stadt selbst auszutönen scheint. Der Tag ist inzwischen angebrochen und überleuchtet mit rötlicher Glut die geschwärzten Mauern. Eine große Helle geht, immer sich steigernd, vom morgendlichen Himmel aus.) (DIE MENGE in mächtigem Aufschwall beim Ruf der Posaune, die Hände gen Osten gereckt, flutet ekstatisch durcheinander.)

      STIMMEN:

       Die Posaune… die Posaune… Gott ruft uns… der Tag ist angebrochen… der Tag unserer Prüfung… die Sonne nahet Jerusalem… rüstet die Tiere… rüstet die Herzen… Gott ruft uns… wir kommen, wir kommen… Auszug… Auszug… oh Einkehr und Wiederkehr… Jerusalem… Jerusalem!

      JEREMIAS (gewaltig auf der Höhe der Stufen aufgerichtet. Alle um ihn sind zurückgetreten, so daß er, einsam auf der Höhe, noch gewaltiger scheint. Seine Arme sind erhoben, seine Stimme bebend in Überraschung):

      Auf, ihr Verstoßenen,

       Auf, ihr Besiegten,

       Rüstet zur Reise!

       Wandervolk, Gottesvolk, welterwähltes,

       Hebe dein Herz!

      (DIE MENGE gerät in gewaltige Bewegung.)

      JEREMIAS (zur Stadt hingewandt):

      Zum letztenmal glänzen

       Jerusalems Zinnen

       In eure Tränen,

       Leuchtet euch Höhe

       Des heiligen Bergs!

       Einmal noch hebet

       Brennende Blicke,

       Trinket der Heimat

       Verlorenes Bild!

       Trinket die Zinnen,

       Trinket die Mauern,

       Trinket die Türme

       Der ewigen Stadt,

       Trinket das Dürsten,

       Sie wieder zu schauen,

       Trinket, oh trinket Jerusalem!

      STIMMEN:

       Glüh ein in uns, daß wir entbrennen… wie könnt ich dich vergessen, Bild der Bilder… möge darren meine Rechte, wenn ich dein vergäße, Jerusalem… oh, Heimat unserer Herzen… Zion, Zion, du heilige Stadt!

      JEREMIAS:

      Einmal noch beuget

       Fromm euch der Erde,

       Einmal noch rühret

       Die Grube der Väter

       Fürchtiger Hand!

       Erde, oh Erde, die ich verlasse,

       Du blutgetränkte,

       Du tränenversengte,

       Sehet, ich fasse

       Sie fromm mit liebenden Händen an.

       Erde, Erde, ich schlinge dich,

       Erde, Erde, durchdringe mich!

       Bitteren Kloß

       Würg ich die schluchzende Kehle hinab,

       Doch deine Bitternis innen im Leibe

       Entbrenne mir Seele und Eingeweide,

       Daß ich ewig deiner gedenke,

       Ewig deiner teilhaftig werde!

       Erde, du heilige Vätererde,

       Schenke

       Mir ewig Begehren und ewigen Brand,

       Ewigen Hunger und Heimverlangen

       Nach Zion, unserm verlorenen Land!

      DIE MENGE (sich niederwerfend und wie Jeremias von der Erde einen Kloß schlingend):

       Oh, teure Erde, Scholle der Väter… dring ein in mich… würg meine Seele, wie ich dich würge… oh, verloren Land… Sarg meiner Väter… oh, dich lassen… Erde, Erde, du heilige Erde…

      JEREMIAS (sich erhebend):

      Doch nun du gespeiset

       Bittere Sehnsucht,

       Doch nun du getrunken

       Brennendes Bild,

       Wandervolk, Gottesvolk, hebe dich auf!

       Lasset die Toten,

       Sie haben den Frieden,

       Lasset die Mauern,

       Sie stehen nicht auf,

       Du doch erstehest

       Ewig und ewig

       Aus deinen Tiefen

       In deinem Gott.

       Auf,

       Wandervolk, Gottesvolk, rüste zur Reise,

       Blick in die Ferne,

       Blick nicht zurück!

       Die verweilen,

       Haben die Heimat,

       Doch die wandern,

       Haben die Welt!

       Auf, ihr Gebeugten,

       Auf, ihr Besiegten,

       Hebet die Stirnen

       Über die Nöte

       Wider die ewigen Morgenröten

       Und der Gestirne

       Wanderndes Zelt.

       Gott hat die Straßen,

       Die ihr beschreitet,

       Wissend bereitet,

       Wandervolk, Gottesvolk, auf in die Welt!

      (DIE MENGE rüstet ringsum zur Wanderung, Getümmel der Menschen und Tragtiere, erregte, eifernde Bewegung.) EINER (vortretend):

      Doch sage, du Führer, dulde die zage Klagende Frage,

       Werden die Tale uns wieder gehören,

       Wird einstens Israel wiederkehren,

       Sag, schauen wir wieder Jerusalem?

      STIMMEN:

       Ja… sage… künde, verkünde… schauen wir wieder Jerusalem?

      JEREMIAS:

      Ewig wird inwendig es schauen,

       Wes Seele nicht Knecht seiner Knechtschaft ist,

       Und mit dem Maß seines Gottvertrauens

       Die Tiefe allirdischen Leidens durchmißt.

       Ihm glänzet urmächtig, am innersten Grunde

       Des Herzens Zion zu jeglicher Stunde,

       Schöner als wir es vordem gekannt,

       Jede Fremde wird ihm das Gottesland!

       Oh, wer vertrauet, dem ist es erbauet,

       Wer glaubt, schaut immer Jerusalem!

      STIMMEN:

       Wir glauben… wir glauben… ewig werden wir es schauen… Der Glaube ist unser Jerusalem!

      EIN ANDERER (vortretend):

       Doch sage, du Führer, wer wird es uns bauen?

      JEREMIAS:

      Die Inbrunst des Sehnens, die Nacht unsrer Kerker,

       Und das Leiden, das euch gelehrigt hat,

       Ihr selber werdet die heiligen Werker,

       Umschafft ihr die Seelen zur seligen Stadt.

       Aus euern Trauern erhebet die Mauern,

       Und je tiefer die Völker euch niederbeugen,

       Um so höher werden sie gottwärts aufsteigen,

       Um so schöner erstehet Jerusalem!

      STIMMEN:

       Ja, laßt es uns bauen… das Senkblei niederwerfen in unsere Leiden… laßt uns die Steine bebauen unseres Schmerzes… zu Gott