Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Doch sage, du Führer, wird es dann dauern?

      JEREMIAS:

      Steine bröckeln, es stürzen die Mauern

       Irdischer Werke, die Reiche veralten,

       Städte verschwemmen im Strome der Zeit,

       Doch was die Seelen in Leiden gestalten,

       Dauert in Gottes Allewigkeit.

       Wer kann sie zerstören,

       Die unsichtbaren,

       Innen geschauten,

       Tränenerbauten

       Zinnen der heiligen Zuversicht,

       Wer kann ihn uns rauben

       Den seligen Glauben,

       Wer stürzet des Herzens Jerusalem?

      STIMMEN:

       Ewig währet Jerusalem… wer kann es zerstören… heilig, heilig unsrer Herzen Haus… heilig die Stätte unsrer Not… oh, Tröstung… oh, Zuversicht…

      EIN ANDERER:

      Doch sage, du Führer, wo sollen wirs finden,

       Wo schauet die Seele Jerusalem?

      JEREMIAS:

      Wo immer ihr euch in euch selber aufrichtet

       Und feurig von Furcht und Fremdnis erhebt,

       Da ist es aus Wunsch in die Welt gedichtet,

       Da ist der Traum unseres Heimwehs erlebt,

       An jeglichem Orte,

       Wo euch Glaube inwohnet,

       Überwölbt euch hell seine mauerne Krone:

       Wer glüht, sieht ewig Jerusalem!

      STIMMEN:

       Oh, Tröstung des Glaubens… Gottes selige Knechtschaft… zerstört hat er die Stadt, daß sie uns ewig in den Herzen erstehe… überall wollen wir sie finden… laßt sie uns aufbauen in den Herzen… ewig ist unser Jerusalem… Oh, ewiger Auszug und Wiederkehr…

      (DIE POSAUNE schallt mächtig zum zweiten Male. Es ist ganz hell geworden, offen regt sich der unübersehbare Tumult der wanderbereiten Massen, die mit einem gewaltigen Schrei der Ungeduld und der Erhebung das Zeichen des Auszuges grüßen.)

      JEREMIAS (hoch über ihnen):

      Wandervolk, Leidvolk – im heiligen Namen

       Jakobs, der von Gott einst dir Segen entrang –

       Hebe dich auf, in die Welt zu fahren,

       Rüste und schreite unendlichen Gang!

       Wirf deinen Samen

       Willig ins Dunkel der Völker und Jahre,

       Wandre dein Wandern und leide dein Leid!

       Auf, du Gottvolk! Beginn deine wunderbare

       Heimkehr durch Welt in die Ewigkeit!

      (DIE MENGE gerät in mächtige Bewegung. Schweigend ordnet sich ein ungeheurer Zug. Voran tragen sie den König in einer Sänfte, dann schreiten ernst und feierlich, Geschlecht um Geschlecht, die geordneten Gruppen den Weg gegen die Tore. Ihre Blicke sind aufwärts gerichtet, sie singen im Schreiten, und ihr Ausziehen hat die ernste Feierlichkeit einer Opferhandlung. Keiner drängt sich vor, keiner bleibt zurück, ohne Eile und Hast schreiten die Reihen dahin und schwinden im Vorbeigehen. Immer neue kommen ihnen nach, und es ist, als ginge eine Unendlichkeit hier aus dem Dunkel in die Ferne.)

      STIMME DER SCHREITENDEN:

      In fremden Häusern werden wir wohnen

       Und brechen ein tränensalzenes Brot.

       Auf Schemeln der Schande werden wir sitzen

       Und ängstend schlafen an feindlichem Herd.

       Dunkel der Jahre wird über uns fallen,

       Der Könige Fron und der Herrschenden Haft,

       Doch unsere Seelen entwandern der Fremde

       Und ruhen allzeit in Jerusalem.

      ANDERE STIMMEN DER SCHREITENDEN:

      Aus weiten Wassern werden wir trinken,

       Die bitter brennen dem sehnenden Mund,

       Mit Fremdnis werden uns Bäume umschatten

       Und Stimmen des Ängstens wehen der Wind,

       Doch keine Fremde wird uns zur Ferne,

       Denn von den Sternen wehet uns Tröstung;

       Träume der Heimat enttauchen den Nächten,

       Und unsere Seele erstehet gekräftigt

       Von der heiligen Zehrung Jerusalem!

      ANDERE STIMMEN DER SCHREITENDEN:

      Auf fremden Straßen werden wir fahren,

       Durch Land und Länder stößt uns der Wind,

       Heimat um Heimat reißen die Völker

       Uns von den brennenden Sohlen fort,

       Nirgends ist Wurzel dem stürzenden Stamme,

       Wanderschaft stets unsere wandelnde Welt,

       Doch selig, selig wir Weltbesiegten,

       Denn sind wir auch nur Spreu aller Straßen,

       Nirgends verschwistert und keinem genehm,

       Ewig doch geht unser Zug durch die Zeiten

       Zu unserer Seelen Jerusalem!

      (EINIGE CHALDÄER, unter ihnen ein Hauptmann, sind halbtrunken aus dem Palaste herausgekommen. Ihre Stimmen fahren laut und grell über das dunkle Sprechen der Schreitenden hin.)

      DER HAUPTMANN DER CHALDÄER:

       Hört ihr sie murren? Sie wollen nicht ausziehen! Mit der Peitsche schlag unter sie, wenn sie trotzig sind!

      EIN CHALDÄER:

       Herr, siehe, sie ziehen schon ohne Geheiß! Und sie murren nicht!

      DER HAUPTMANN:

       Wenn sie klagen, schlag die Klage entzwei in ihrem Munde.

      DER CHALDÄER:

       Herr, sie klagen nicht.

      EIN ANDERER CHALDÄER:

       Siehe… wie sie schreiten… wie die Sieger gehen sie einher… es leuchtet in ihren Blicken.

      DIE CHALDÄER:

       Was ist mit diesem Volke… sind sie die Besiegten nicht… hat sie einer genarrt mit falscher Botschaft der Befreiung… hört, was sagen sie… was singen sie… seltsam ist dies Volk… unverständlich in seinem Trotz und seiner Ergebung… wer begreifet dies Volk… in dieser Milde ist eine Kraft, die gefährlich ist… ein Einzug ist dies eines Königs und nicht Auszug der Geknechteten… nie sah die Welt ein Volk wie dieses…

      STIMMEN (vereint sich ablösend, in immer neuen, weiterschreitenden Zügen, in die auch Jeremias unscheinbar eingegangen ist):

      Wir wandern durch Völker, wir wandern durch Zeiten

       Unendliche Straßen des Leidens entlang,

       Ewig sind wir die ewig Besiegten,

       Hörig dem Herde, an dem wir ausrasten,

       Niedrige Knechte niedrigen Frons,

       Doch die Städte, sie sinken, es gleiten

       Völker ins Dunkel wie stürzende Sterne,

       Und die hart unsere Rücken zerschlugen,

       Werden zuschanden Geschlecht um Geschlecht.

       Wir aber schreiten und schreiten und schreiten

       Tiefer hinein in die eigene Kraft,

       Die sich aus Erden die Ewigkeiten

       Und aus ihrem Leiden den Gott entrafft.