waren und Klara der Ruhe bedurfte.
Als der Peter spät am Abend mit seinen Geißen nach dem Dörfli herunter kam, stand eine Menge von Leuten an einem Knäuel zusammen, und eins stieß das andere ein wenig weg, um besser sehen zu können, was mittendrin am Boden lag. Das mußte der Peter auch sehen; er drückte und drängte rechts und links und bohrte sich hinein.
Da, jetzt sah er's.
Auf dem Grase lag das Mittelstück vom Rollstuhl, und noch ein Teil des Rückens hing daran. Das rote Polster und die glänzenden Nägel zeugten noch davon, wie prächtig der Stuhl in seiner Vollkommenheit ausgesehen hatte.
»Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen«, sagte der Bäcker, der neben dem Peter stand; »wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen ist.«
»Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi selbst gesagt«, bemerkte die Barbel, die nicht genug das schöne rote Zeug bewundern konnte.
»Es ist gut, daß es kein anderer ist, der's getan hat«, sagte der Bäcker wieder; »dem ging's schön! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich für mich bin froh, daß ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen wurde.«
Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber der Peter hatte genug gehört. Er kroch ganz zahm und sachte aus dem Knäuel heraus und lief aus allen Kräften den Berg hinauf, so als wäre einer hinter ihm drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine furchtbare Angst eingejagt. Er wußte ja jetzt, daß jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache untersuchen mußte, und dann konnte es doch rauskommen, daß er es getan hatte, und dann würden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus schleppen. Das sah der Peter vor sich, und seine Haare sträubten sich vor Schrecken.
Ganz verstört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett hinein und stöhnte.
»Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, daß er so ächzen muß«, meinte die Mutter Brigitte.
»Du mußt ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein Stücklein von dem meinen«, sagte die Großmutter mitleidig.
Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein hinausschauten, sagte das Heidi:
»Hast du nicht heut den ganzen Tag denken müssen, wie gut es doch ist, daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so furchtbar stark beten um etwas, wenn er etwas viel Besseres weiß?«
»Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?« fragte Klara.
»Weißt du, weil ich in Frankfurt so stark gebetet habe, daß ich doch auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du, wenn ich so bald fortgelaufen wäre, so wärest du nie gekommen, und du wärest nicht gesund geworden auf der Alp.«
Klara war ganz nachdenklich geworden. »Aber, Heidi«, fing sie nun wieder an, »dann müßten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen und wir von ihm erbitten wollen.«
»Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?« eiferte jetzt das Heidi. »Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergessen, daß wir alles von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so vergißt er uns auch, das hat die Großmama gesagt. Aber weißt du, wenn wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müssen wir nicht denken, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ganz aufhören zu beten, sondern dann müssen wir so beten: Jetzt weiß ich schon, lieber Gott, daß du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein, daß du es so gut machen willst.«
»Wie ist dir das alles so in den Sinn gekommen, Heidi?« fragte Klara.
»Die Großmama hat mir's zuerst erklärt, und dann ist es auch so gekommen, und dann hab ich's gewußt. Aber ich meine auch, Klara«, fuhr das Heidi fort, indem es sich aufsetzte, »heute müssen wir gewiß dem lieben Gott noch recht danken, daß er das große Glück geschickt hat, daß du jetzt gehen kannst.«
»Ja gewiß, Heidi, du hast recht, und ich bin froh, daß du mich noch erinnerst; vor lauter Freude hätte ich es fast vergessen.«
Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes in seiner Weise für das herrliche Gut, das er der so lange krank gewesenen Klara geschenkt hatte.
Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die Frau Großmama schreiben, ob sie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle, es wäre da etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen andern Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraschung bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so daß sie, allein auf das Heidi gestützt, einen kleinen Gang machen könnte; von allem aber müßte die Großmama keine Ahnung haben. Nun wurde der Großvater beraten, wie lange das noch währen könnte, und da er meinte, kaum acht Tage, so wurde im nächsten Briefe die Großmama dringend eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet.
Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerschönsten, welche Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte sie mit der lauten Freudenstimme in ihrem Herzen: »Ich bin gesund! Ich bin gesund! Ich muß nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie die anderen Menschen!«
Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser, und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen solchen Appetit mit sich, daß der Großvater seine dicken Butterschnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen Topf voll von der schäumenden Milch herbei und füllte Schüsselchen um Schüsselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Großmama bringen sollte!
Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen
Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach der Alp hinauf geschrieben, damit sie oben bestimmt wüßten, daß sie komme. Diesen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Frühe mit sich, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli standen beide draußen und schüttelten lustig ihre Köpfe in der frischen Morgenluft, während die Kinder sie streichelten und ihnen glückliche Reise wünschten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich stand der Öhi dabei und schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine sauber glänzenden Geißen nieder. Beides mußte ihm gefallen, denn er lächelte vergnüglich.
Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, näherte er sich langsam, streckte den Brief dem Öhi entgegen, und sobald dieser ihn erfaßt hatte, sprang er scheu zurück, so als ob ihn etwas erschreckt habe, und dann guckte er schnell hinter sich, gerade als ob von hinten ihn auch noch etwas hätte erschrecken wollen; dann machte er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf.
»Großvater«, sagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut hatte, »warum tut der Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn der eine Rute hinter sich merkt; dann scheut er mit dem Kopf und schüttelt ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Sprünge in die Luft hinauf.«
»Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter sich, die er verdient«, antwortete der Großvater.
Nur die erste Halde hinauf lief der Peter so in einem Zuge davon; sobald man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, kam es anders. Da stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt