möglicher, aber noch nicht eingeführter Abschnitt wäre das Rentenalter. Ein Beispiel: Ein Mann wurde 1942 auf Sylt geboren, wo die Familie Hochdeutsch sprach. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie aufs Festland, wo sie bei der friesischsprachigen Urgroßmutter wohnte. Nebenan wohnten die friesischsprachigen Großeltern. Die Familiensprache wechselte zu Friesisch. Auf der Straße lernte der Knabe Niederdeutsch. Mit sechs Jahren ging er auf die dänische Schule, wo er Dänisch und Englisch lernte. Im Beruf lernte er später Jütisch.
In der Untersuchung spiegelt sich zunächst der starke gesellschaftliche Wandel wider. Während zum Beispiel die Groß- und Urgroßelterngeneration zur Volksschule im Dorf gingen, besuchen die Kinder heute häufig eine große, zentral gelegene Schule. Während die älteren Generationen wenig mobil waren, ist die Mobilität ein Zeichen der modernen Zeit usw.
Auf Grund des gesellschaftlichen Wandels befinden sich die Spracherwerbsprozesse ebenfalls im Wandel. Allgemein gilt, dass die Großeltern- und Urgroßelterngenerationen zu einem großen Teil in friesischer und/oder niederdeutscher Sprache sozialisiert wurden. Hochdeutsch hat man erst in der Schule gelernt. Die heutige Kindergeneration wird weitgehend hochdeutsch sozialisiert. Gewisse Kenntnisse des Friesischen oder des Niederdeutschen werden, wenn überhaupt, oft erst im Kindergarten oder in der Schule erworben.
In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, welche Sprache mit den unterschiedlichen Familienmitgliedern gesprochen wird, etwa Eltern, Großeltern, Kindern, Enkelkindern, Tante, Onkel, Kusinen, Mann/Frau, Schwiegereltern, -sohn oder -tochter. Die Gründe für die jeweilige Sprachwahl werden analysiert. Es lässt sich beobachten, dass die dem Erwerb sowie dem Gebrauch der jeweiligen Sprachen zugrunde liegenden Faktoren komplex sein können. Ein Beispiel: Ingeborg wurde 1941 auf Amrum geboren. Sie sprach Hochdeutsch mit ihrer vom Festland stammenden Mutter, da die Hebamme bei der Geburt mit ihr Hochdeutsch gesprochen hatte. Als der Vater später aus dem Krieg kam, hat er auch mit ihr Hochdeutsch gesprochen, da sich dies als Eltern-Kind-Sprache etabliert hatte. Mit Ingeborgs Bruder (*1933) sprachen Mutter und Vater Niederdeutsch, die Geschwistersprache ist jedoch Hochdeutsch. Friesisch hat Ingeborg in erster Linie von einem monolingualen Spielfreund (*1946) sowie später von ihrem Mann Erk (*1939) gelernt. Die Ehesprache war Friesisch. Dänischkenntnisse erwarb sie mit etwa elf Jahren von einem friesischen Wanderlehrer auf Amrum, der Dänischkurse in privaten Häusern anbot und Ferien in Dänemark organisierte. Erk hat Hochdeutsch erst auf der Schule sowie von den Flüchtlingen nach dem Krieg gelernt. Als er später als Zimmermann auf Wanderschaft war, hat er in Hamburg Niederdeutsch- und in Kopenhagen Dänischkenntnisse erworben. 1962 sind Ingeborg und Erk nach Amerika ausgewandert, wo Englisch dazu kam. Dies war auch die Sprache, die sie mit ihren beiden dort geborenen Töchtern sprachen. Als sie 1974 nach Amrum zurückkamen, wechselte die Eltern-Kinder-Sprache zu Hochdeutsch, da die Töchter ohne Deutschkenntnisse hier eingeschult wurden. Im Laufe der Zeit begannen Ingeborg und Erk zunehmend Friesisch mit ihren Töchtern zu sprechen, die beide hochdeutschsprechende Männer von der Insel geheiratet haben. In beiden Fällen sprechen die Töchter Hochdeutsch mit ihrem jeweiligen Ehemann und Friesisch mit den Kindern. Bei der ältesten Tochter scheint dies daran zu liegen, dass die Hebamme, eine Föhrerfriesin, Friesisch mit den Kindern bei der Geburt gesprochen hatte. Ingeborg und Erk sprechen Friesisch mit den Enkelkindern, die auch untereinander diese Sprache verwenden (Walker 2017c: 116f.).
Ein weiterer Aspekt der Untersuchung ist die mit Tieren sowie beim Zählen, Beten, Fluchen usw. verwendete Sprache. In der Tierwelt spielt der Hund sprachlich oft eine Sonderrolle, indem er als Schoßhund mit der Nähesprache (Friesisch), als Befehlsempfänger dagegen mit der Distanzsprache (Hochdeutsch) angesprochen wird. Die Wahl der Sprache beim Zählen kann mit dem Numeralisierungsprozess, die Wahl beim Gebet mit dem formellen/informellen Charakter des Gebetes zusammenhängen.
8.5 Sprachnorm und Sprachwandel
Auf Grund der Dialektvielfalt im Nordfriesischen kann nicht von einer Norm die Rede sein, sondern fast jede Hauptmundart hat ihre eigene orthographische, grammatische und lexikalische Norm (Wilts 2001a, 2001b). Die sylterfriesische Mundart verfügt über die älteste Norm, die mit Boy P. Möllers Lesebuch (1909) und dem Wörterbuch von 1916 festgelegt worden ist. Für die Inseln Föhr und Amrum wurde die orthographische Norm mit dem „Alkersumer Protokoll“ 1971 festgelegt. Eine leichte Korrektur erfolgte 1980 bei der Herausgabe eines Wörterbuchs, die auch zu einer größeren orthographischen Differenzierung zwischen den Mundarten von Föhr und Amrum führte. Eine grammatische Norm existiert ansatzweise in Form von Formenlehren, eine lexikalische Norm mit diversen Wörterbüchern. Auf dem Festland wurde 1955 mit dem Wörterbuch von Tams Jörgensen eine orthographische Norm für die Mooringer Mundart kodifiziert, die auf der Westermooringer Mundart basierte. Diese wurde 1988 durch das Mooringer Wörterbuch ersetzt, dem die größere Ostermooringer Mundart zugrunde liegt. Für die Wiedingharde wurde 1994, in Abweichung von Peter Jensens orthographischer Norm, die er 1927 in seinem Wörterbuch und vielen Prosatexten etabliert hatte, eine neue orthographische Norm eingeführt. Auch für die Mooringer und Wiedingharder Mundarten gibt es Formenlehren, die Ansätze einer grammatischen Norm enthalten. Von Bendsens Ansatz aus dem Jahr 1860 abgesehen existiert keine ausführliche Grammatik über eine nordfriesische Mundart, obwohl viele Schriften sich mit grammatikalischen Fragen befassen.1
Der Sprachwandel im Friesischen ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen gewesen, in denen die Anpassung der friesischen Grammatik an die dominante hochdeutsche Grammatik sowie der Verlust von Regeln, die vom Hochdeutschen abweichen, festgestellt wird (siehe z.B. Parker 1993). Ebert (1994) beklagt sich über den Verlust der von ihr entdeckten Regeln zum Gebrauch des bestimmten Artikels im Friesischen. Ein grundlegender Aufsatz zu dieser Thematik befindet sich bei Århammar (2001), in dem Kontakterscheinungen mit den benachbarten Sprachen Dänisch/Niederdeutsch/Niederländisch/Hochdeutsch/Englisch analysiert werden.
Die im Rahmen des Schreibwettbewerbs Ferteel iinjsen! veröffentlichten Texte (vgl. Kap. 7.6.5) geben oft beredtes Zeugnis über den Sprachwandel, und es kann für einen Herausgeber friesischer Texte ein Problem sein, in welchem Maße er in einen „neufriesischen“ Text eingreift. Da die wenigsten Friesen auf Grund des fehlenden oder unzureichenden Friesischunterrichts Schriftlichkeit im Friesischen beherrschen, müssen friesische Texte vor der Veröffentlichung fast immer überarbeitet werden.
Auf Grund des Sprachwandels wird darüber diskutiert, was „gutes“ und „schlechtes“ Friesisch sei. Für „new speakers“ scheint die und + Infinitiv-Konstruktion, etwa dåt as ai lacht än schriw frasch (‚das ist nicht leicht und schreiben Friesisch‘) von Echtheit zu zeugen, obwohl sie ursprünglich auf dänisches Substrat zurückzuführen sein dürfte (Hoekstra 2011). Das Reflexivpronomen 3. Pers. sik statt etwa ham/har bzw. jam scheint sich zu einem Shibboleth für schlechtes Friesisch entwickelt zu haben (Faltings 2020). In der letzten Zeit hat eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Normgedankens für die friesischen Mundarten die Gemüter bewegt.2
9 Spracheinstellungen: Friesisch als Ausdruck kultureller Identität
Die Frage der friesischen Identität bedarf einer differenzierten Betrachtung.
Ein wichtiger Aspekt der friesischen Identität ist die Ortsgebundenheit. Man ist primär Mitglied einer Dorfgemeinschaft und eventuell darüber hinaus einer Insel- oder Hardengemeinschaft. Dieser stark ausgeprägte Regionalismus spiegelte sich in der Einstellung zur friesischen Sprache wider, indem man die eigene Ortsmundart als das richtige Friesisch schlechthin empfand. Diese Einstellung scheint sich jedoch, zumindest auf dem Festland, inzwischen in einem gewissen Wandel zu befinden, wo sich die Mooringer Mundart, teilweise durch den Schulunterricht bedingt, langsam als die übergeordnete Mundart etabliert.
Ein zweiter Aspekt ist die lange Tradition eines friesischen Stammesbewusstseins (Nickelsen 1982: 41).1 1652 schrieb zum Beispiel der Husumer Bürgermeister Caspar Dankwerth, dass die Einwohner dieser Gegend „[f]riesischen Herkommens und Geblütes“ seien (Nickelsen 1982: 40). Im Laufe der Jahrhunderte haben allerdings ganz unterschiedliche Vorstellungen bezüglich des Umfangs des friesischen Gebietes und Stammes existiert. Dieses Bewusstsein hat sich zudem nie über einige Ansätze im 19. Jahrhundert hinaus zu einer nationalen Bewegung entwickeln können.
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