„seriously endangered language“ eingestuft (Salminen 1999).2
Heute besteht das Nordfriesische aus neun Hauptmundarten (s. Abb. 2).3 Diese unterscheiden sich teilweise so stark, dass eine Verständigung auf Friesisch häufig nur schwer möglich ist. Daher neigen Sprecher unterschiedlicher Mundarten vielfach dazu, für Kommunikationszwecke auf eine Lingua franca auszuweichen. Dies war früher das Niederdeutsche, heute ist es weitgehend das Hochdeutsche. Es hat sich jedoch gezeigt, dass durch eine verstärkte interdialektale Zusammenarbeit Sprecher unterschiedlicher Dialekte lernen können, sich auf Friesisch zu verständigen.
Abb. 2: Gliederung der nordfriesischen Mundarten4
Die durch den unterschiedlichen Zeitpunkt der Besiedlung bedingte wichtigste Mundartgrenze liegt zwischen den inselfriesischen Mundarten von Sylt, Föhr, Amrum und Helgoland einerseits und den festlandfriesischen Mundarten einschließlich der Halligmundarten andererseits. Andere Gründe für die Entstehung der Dialektzersplitterung waren die Abgeschiedenheit der einzelnen Dörfer und die relative Unzugänglichkeit (Sumpf- und Moorgebiete sowie im Winter kaum passierbare Kleiwege) sowie der unterschiedliche Einfluss der benachbarten Sprachen Dänisch (Jütisch) und Niederdeutsch. In den nördlichen festland- und inselfriesischen Mundarten ist der dänische Einfluss stärker spürbar, während die südlichen festlandfriesischen Mundarten und das Helgoländische eher vom Niederdeutschen beeinflusst sind. Ferner hat es nie einen zentralen Ort gegeben, der dialektausgleichend gewirkt hätte.
Im Gegensatz etwa zum Rätoromanischen mit der übergeordneten Schriftnorm „Rumantsch Grischun“ gibt es im Nordfriesischen keine einheitliche friesische Schriftsprache. Jede einzelne Mundart hat ihre eigene Orthographie (Wilts 2001a). Wörterbücher und Formenlehren sind inzwischen für die meisten Mundarten erstellt worden (Walker/Wilts 2001, Wilts 2001b).
8.2 Sprache in Nordfriesland
Jedes Dorf in Nordfriesland ist sprachlich heterogen, da die einzelnen Einwohner über unterschiedliche Sprachkenntnisse verfügen. Die in Kap. 3.1 vorgenommene grobe Einteilung der Sprachen bedeutet nur, dass in den jeweiligen Gebieten ein gewisser Prozentsatz der autochthonen Bevölkerung die einzelnen Sprachen beherrscht. Dieser Prozentsatz variiert von Dorf zu Dorf.
Bei den Sprachen existiert eine gewisse Hierarchie: Friesisch/Jütisch → Niederdeutsch → Hochdeutsch. Dies bedeutet, dass Sprecher des Friesischen und/oder des Jütischen oft auch Kenntnisse des Niederdeutschen und auf jeden Fall des Hochdeutschen haben. Verhältnismäßig wenige Niederdeutschsprecher verfügen über Kenntnisse des Friesischen und/oder des Jütischen, sprechen aber alle Hochdeutsch. Nicht alle Hochdeutschsprecher sprechen Niederdeutsch, und noch weniger können Friesisch und/oder Jütisch. Dänischkenntnisse (Rigsdansk) haben Mitglieder der dänischen Minderheit, die verstreut über das ganze Gebiet leben, sowie Personen, die in Verbindung zur Minderheit stehen, ohne selbst Mitglieder zu sein. Sprachkenntnisse entstehen auch auf Grund eines wirtschaftlichen Interesses, etwa im Handel und Fremdenverkehr, oder durch Kontakt zu Dänemark zum Beispiel durch Verwandtschaft, Freunde oder wirtschaftliche Verbindungen.
Die indviduelle Sprachkompetenz reicht von hochdeutscher Einsprachigkeit bis hin zur Fünfsprachigkeit mit Hochdeutsch, Niederdeutsch, Friesisch, Dänisch und Jütisch. Bei der individuellen Mehrsprachigkeit sind verschiedene Konfigurationen möglich. Infolge eines Umzuges oder familienbedingt – zum Beispiel Mutter Inselfriesin, Vater Festlandfriese – beherrschen Friesen manchmal zwei friesische Mundarten.1 Durch die engen Beziehungen zu den USA verfügen viele Föhrer und Amrumer außerdem über gute Englischkenntnisse. Die gestiegene Mobilität, insbesondere der jüngeren Generation, führt ebenfalls zunehmend zur Verbreitung von Englischkenntnissen.
Der Gebrauch der Sprachen hängt von verschiedenen Faktoren ab (Walker 2009). In der Regel weiß jede Person in Nordfriesland, welche Sprache sie mit jeder anderen ihr bekannten Person sprechen kann. Dies ist der primäre Faktor bei der Sprachwahl im Gespräch. In der Domäne „Laden“ hängt zum Beispiel die zu verwendende Sprache von der üblichen zwischen Verkäufer und Kunde benutzten Sprachvarietät ab, nicht von der Domäne an sich. Wer üblicherweise miteinander Friesisch spricht, tut es auch hier. Das Thema kann allerdings die Sprachwahl beeinflussen. Bei einem Gespräch zum Beispiel in der Bank kann das informelle Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch erfolgen, wenn es aber um eine finanzielle Transaktion geht, kann dies zu einem Code-Wechsel, nämlich zum Hochdeutschen führen. Dies kann damit zusammenhängen, dass der in hochdeutscher Sprache ausgebildete Bankangestellte ein formelles Gespräch mit Fachvokabeln nur auf Hochdeutsch führen kann oder will. Dieser Gedanke kann wiederum durch einen weiteren Faktor, das Sprachbewusstsein, außer Kraft gesetzt werden. Der sprachbewusste Kunde könnte darauf bestehen, das Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch fortzusetzen, allerdings unter Verwendung vieler Ad-hoc-Entlehnungen.
In einem weiteren Beispiel kann die Sprache im Zwiegespräch ebenfalls gemäß dem Thema wechseln. Der Sprechende kann sich nach der Sprache der Person richten, über die gerade gesprochen wird. Im auf Friesisch geführten Gespräch wechselt er ins Niederdeutsche, wenn er von den niederdeutschsprechenden Nachbarn erzählt. Auf Hochdeutsch geht es weiter, wenn über die Politiker in Kiel gesprochen wird, auf Dänisch, wenn der dänische Schulverein Gegenstand des Gesprächs ist. Das setzt natürlich voraus, dass der Gesprächspartner ebenfalls Kenntnisse in diesen Sprachen besitzt.
Im Gespräch in geselliger Runde kann die Sprachwahl ständig wechseln. Ein Sprechender richtet sich nach seinem momentanen Gesprächspartner. Wenn er gerade jemandem in die Augen schaut, mit dem er normalerweise Friesisch spricht, wird diese Sprache auch benutzt. Wenn er aber dann einer anderen Person in die Augen schaut, mit der er Niederdeutsch spricht, ist ein sofortiger Code-Wechsel zum Niederdeutschen hin nicht unüblich.
8.3 Sprache in der Statistik
Die Tradition der sprachstatistischen Erhebungen reicht in Nordfriesland bis ins 19. Jahrhundert zurück (Walker 2016). Die Erhebungen können großflächige Areale umfassen oder sich nur mit einem Dorf befassen. Unterschiedlich ist auch die Motivation für die Erhebungen: Sie kann zum Beispiel politischer (der Siegeszug des Deutschen über das Dänische), sprachpflegerischer (wo Friesischunterricht sinnvoll wäre), wissenschaftlicher (Verteilung der Sprachen in einem bestimmten Gebiet), oder pädagogischer Natur sein (Einführung von Friesischstudenten in die praktische Spracharbeit).
Im Laufe der Zeit hat sich der thematische Umfang vergrößert. Während es anfangs nur um die Feststellung der Verteilung von Sprachkenntnissen ging, kamen später auch Fragen zum Gebrauch der Sprachen und zu Attitüden gegenüber den Sprachen hinzu. Auch die untersuchte Zielgruppe hat sich im Laufe der Zeit geändert. Am Anfang galt das Interesse der/den Sprache(n) der Familie oder des Haushaltes,1 später stand das Individuum, auch das Kind, mehr im Mittelpunkt.
Die Erhebungsmethoden weisen auch Unterschiede auf. Die Befragungen wurden mit einer direkten oder indirekten Fragebogenaktion durch den Explorator selbst, durch Ortskundige, Lehrer, Studenten, Schüler oder Wissenschaftler durchgeführt. Die Ergebnisse wurden tabellarisch, manchmal auch kartographisch dargestellt und dokumentieren die Verbreitung und Entwicklung der gesellschaftlichen sowie der individuellen Mehrsprachigkeit. Der Sprachgebrauch in der Familie und Haushaltung scheint eher einsprachig zu sein, während das Individuum meist mehrsprachig ist. Allerdings ist ein zunehmender Verlust von Sprachkenntnissen in den Regional- und Minderheitensprachen erkennbar.
Die Überlegung, zusammen mit der letzten Volkszählung auch eine Spracherhebung im Kreis Nordfriesland durchzuführen, wurde von friesischer Seite mit dem Argument abgewiesen, dass man lieber an einen bestimmten Sprachstand glauben als die Wahrheit wissen wolle (Steensen 1996).
8.4 Sprache in der Familie
Um die Sprachverhältnisse und Sprachentwicklungen in der Familie genauer zu eruieren, läuft ein Projekt zu Sprecherbiographien (Walker 2017c). Als Grundthese wird angenommen, dass Spracherwerb und Sprachgebrauch von Generation zu Generation und von Ort zu Ort variieren. Untersucht wird zunächst der Erwerb in den Lebensabschnitten a) vor der institutionellen