geben. 24 – Ich habe die Frist gesetzt. Schreibt dem Vater, dass Russland bald ein besserer Ort sein wird.«
Morris Lichtmann, ein gläubiger Jude und genauer Kenner des Talmud und der Kabbala, glaubte Morya aufs Wort. 1923 verfasste er eine Schrift, in dem er das baldige Kommen des Messias voraussagte. Als sie erschien, wurde der Mahatma von den Roerichs, die sich gerade in Frankreich befanden, nach seiner Meinung gefragt. Doch Morya hatte nichts einzuwenden. »›Verurteilt nicht Avirach [esoterischer Name von Morris Lichtmann], der Nutzen des Artikels überwiegt den Schaden.‹ (Erhielten den Artikel über den Messias, und wir erschraken uns ein wenig – ist er denn nicht vielleicht zu früh geschrieben worden?) Ich sah Menschen, die ihn mit Tränen gelesen haben. Besser wegen der Tränen die Schmälerung ertragen. Urusvati versteht die Heldentat. Den Gois soll man den Namen nicht zeigen, aber den Wartenden, denke ich, kann man.«29
Der ganze Kreis, und auch der anfangs eher zurückhaltende Louis Horch, teilte die Hochstimmung, die Heilserwartung, die Morris Lichtmann in seiner Schrift ausgedrückt hatte. Ab Mitte September 1922 – Frances Grant zusammen mit Nettie Horch sogar noch zwei Monate früher – begannen alle Teilnehmer der Séancen oder, wie es im Kreis hieß, der »Gespräche« mit Morya, automatisch zu schreiben. Frances Grant und die Horchs auf Englisch, das Ehepaar Lichtmann und Sofie Shafran auf Russisch und Esther Lichtmann auf Deutsch. Diese Niederschriften, die den Jüngern der Roerichs als heilig galten, sind sämtlich noch vorhanden. Verblüffend ist, wie sehr sie sich – und egal in welcher Sprache – untereinander ähneln und wie sehr sie in Duktus und Inhalt den automatischen Schreiben Nikolai Roerichs und den durch Helena übermittelten Botschaften Moryas entsprechen. Man findet hier dieselbe Verwendung biblischer Ausdrücke, den feierlichen Ton und sogar die gleichen konkreten, aber völlig utopischen und irrealen Prophezeiungen.
Den Anfang machte Frances Grant. Am 7. Juli 1922 schrieb sie: »M. hört deine Pläne und billigt sie. K.H. und M. sind einverstanden. Sei unbeirrt in deiner Hingebung, viele sind gescheitert. M. wird deinen Plänen helfen. Die Zukunft wird die Ergebnisse deiner Hingebung zeigen. M. und K.H. vergessen nicht. [...] Meine Krieger tragen das Banner des Erzengels Michael. Und sie werden die Dunkelheit aus den Seelen der Menschen verbannen.«
Die Nächste war Nettie Horch, der M.M. (Master Morya) folgende Sätze eingab: »Die Liebe sei dein Leitfaden. [...] Deine Worte kommen von mir. Hab Vertrauen in Mich [im Original großgeschrieben]. Zwischen den Arbeitern soll Einigkeit sein. [Gemeint sind die Mitglieder des Kreises]. Sei freundlich zu allen. Du wirst deine Aufgabe in der Zukunft bekommen. Habe Geduld.«30
Ab dem 19. September schrieben dann alle, die bei den Sitzungen mit Morya anwesend waren, welche mindestens einmal die Woche und manchmal auch öfter stattfanden. Besonderen Reiz haben die Botschaften, die Esther Lichtmann auf Deutsch bekam, da in ihnen noch die Ausdrucksweise der zwanziger Jahre mitklingt. Auch hatte Esther Lichtmann eine poetische Ader. Während sich M.M. bei Nettie und Louis Horch mit eher nüchterner Prosa ausdrückte, fand er bei Esther zu schwärmerischer Höchstform.
»Und die Decke zu niedrig und nicht genug Raum für alle Suchenden. 1924. Die Übergangsstufe wird zum Tempel führen und hoch wird der Tempel sein. Du Roerich [im Original das Monogramm Roerichs], der Auserkorene, der überall Licht ausstrahlt, wirst der Menschheit das Tor zum ewigen Licht öffnen und gedeihen wird Deine Arbeit. Es ist sein Wille. Deine Seele ist groß und groß ist der Zweck Deines Daseins. Deine Erben sollen weiter schaffen. Erwachen beginnt. Unser Schild wird stets über Euch schweben. Segen den Versammelten.«31
Es ist vielleicht kein Zufall, dass man in den Niederschriften Esther Lichtmanns, die wie ihr Bruder Morris und ihre Schwägerin aus dem tiefgläubigen Ostjudentum stammte, immer wieder den Begriff des Tempels findet:
»Heil Euch [im Original großgeschrieben]. Heil dem Tempel. Heil den Leitern. Kein Wort soll aus deren Geiste verloren gehen. Lernt, lernt, lernt in Inbrunst und in Liebe. Unser Schild ist über Euch.«32
Und die Erwartung des Messias, dessen Kommen ihr Bruder später beschrieb, sie findet man auch in den Botschaften, die Esther Lichtmann bekam: »An die sechs Schüler. Vom Osten wird die Verkündigung des Heils der Menschheit kommen, aber das ist nicht die Gegenwart – das wird in Zukunft geschehen. In Gegenwart seien Eure Lehrer Urusvati und Fujama, die Verkünder der Wahrheit, Schönheit und wahren Kunst. Die höhere Lehre genießt. Macht Euch bereit zum Empfang derer, die zur Verkündigung des großen Loses der Welt und Befreiung des armen Menschentums gewählt sind. Machtlos werden die Verräter des Großen sein, denn der zerstörende Geist den heiligen Bau nicht zu vernichten vermag.«33
Es wäre ein Wunder gewesen, wäre Nikolai Roerich, der von Natur aus nicht zur Bescheidenheit neigte, von der Anbetung seiner Anhänger unbeeindruckt geblieben. Als Ende 1922 Pläne auftauchten, ein Museum mit seinen Werken zu eröffnen, schrieb er an seinen Sohn in Paris, dies werde das einzige Museum in den USA werden, das einem einzigen Künstler gewidmet sei.34 So wie das Museum für Rodin in Frankreich.
Tatsächlich wurde das Roerich-Museum 1923 eröffnet. Und auch noch die »Master School of Arts« und »Corona Mundi«, die zu dem bereits existierenden »Cor Ardens« hinzukamen. Das war der Anfang eines Wildwuchses an Gesellschaften, der Außenstehenden, so dem State Department und dem britischen Geheimdienst, noch einige Rätsel aufgeben sollte. Im Tagebuch der getreuen Sinaida Lichtmann liest sich die Genese so: »Die Idee und die Bezeichnung Corona Mundi sind auf erstaunliche Weise ins Leben gerufen worden. Den Gedanken einer solchen Gesellschaft hatte NK den ganzen Winter mit sich getragen, und eines Tages im Mai erzählte er EI beim Aufwachen von dem Namen und dem ganzen Plan, der ihm zweifellos von den Lehrern geschickt worden ist. Cor Ardens, ›das flammende Herz‹ – das Herz soll entflammen, als einziger Weg. ›Master School of United Arts‹ – nachdem das Herz entflammt ist, entsteht die Schule des Meisters. Corona Mundi – als Resultat dieser Schule entsteht Corona Mundi, wie das bereits MM gesagt hat: ›Ich habe die Krone gegeben. Die kosmische Schöpfung ist in allem logisch, in allem einfach.‹«
Prosaischer ausgedrückt, war Cor Ardens nicht viel mehr als ein Briefkopf, in dem der Name Roerich in Zusammenhang mit den Namen einer Reihe prominenter Persönlichkeiten wie Rabindranath Tagore gebracht wurde. »The Master School of United Arts«, war eine private Kunst- und Musikschule, wie es viele in New York gab, und Corona Mundi letztlich nichts mehr als eine Kunsthandelsgesellschaft, in die Nikolai Roerich nicht nur seine Expertise als Sammler, sondern auch seine Verbindungen in die Welt der russischen Emigranten einbringen sollte. Einige von ihnen, so der Rasputin-Mörder Fürst Jussupow, hatten einen Teil ihrer Sammlungen aus Petersburg retten können und waren jetzt gezwungen, sie zu verkaufen.
Doch die drei Gesellschaften zusammen konnten beeindrucken. Besonders nachdem Louis Horch das nötige Geld zur Verfügung gestellt hatte, um in allen wichtigen Zeitungen Anzeigen zu schalten und endlich die Räumlichkeiten der Schule zu renovieren und neue Möbel und Instrumente zu beschaffen. Noch viel mehr Eindruck machten die mystischen Bilder Nikolai Roerichs, die in der Schule aufgehängt wurden, und die Aura, die ihn und seine Frau umgab. Wie sich Louis Horch erinnern sollte, gab er sich meist wortkarg, und wenn, dann sprach er ausweichend und in jenem prophetischen, hohen und dunklen Ton, den man aus seinen Gedichten und den Worten Moryas kennt. Auch beeindruckte er mit seiner auffallenden Erscheinung, dem polierten Schädel und langen Kinnbart und seiner ernsten, gewichtigen Miene, über die, zumindest in der Öffentlichkeit, nie ein Lächeln kam.
Er kultivierte die Aura des Sehers, der Dinge wusste, die gewöhnlichen Sterblichen (noch) verborgen waren. Tatsächlich gelang ihm die Selbststilisierung so gut, dass Zeitgenossen die »asiatische Gesichtsform« eines Mannes herausstellten, den Fremde in Petersburg noch für einen Norweger oder Deutschen gehalten hatten.35
Helena Roerich, die dank des Geldes von Louis Horch endlich wieder ihrer Liebe zu einer teuren Garderobe frönen konnte, machte eine glänzende Erscheinung und nahm Außenstehende mit ihrem herrlich russisch akzentuierten Englisch ein.
In dem knappen Jahr, das von der Bekanntschaft mit Louis Horch bis zum Aufbruch der Roerichs in Richtung Tibet verging, wurde das Ehepaar mit einer Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten bekannt. Mit Charles Crane, einem ehemaligen Botschafter in Russland und Freund des tschechoslowakischen Staatspräsidenten, der