»Urusvati braucht ein Kleid. Urusvati braucht einen Hut. Die Schüler des Meisters sollen ihre Not nicht Fremden offenbaren, sie nicht in die Probleme des Lebens einweihen, das ihnen [den Roerichs] aufgegeben ist. Selbst in schwierigen Zeiten werdet ihr siegen, und das ist keine Lüge, sondern die Wahrheit. Eure Arbeit wird mit irdischem und himmlischem Geld bezahlt werden. Man soll den Kopf hochhalten – die Welle der Freude kann jetzt näher kommen. Ihr müsst jetzt nicht mehr sehr lange Wachsamkeit und Geduld beweisen.«19
Es wäre verwunderlich, wenn Nikolai Roerich keine Zweifel an Allal Ming gekommen wären. Selbst für einen Mann, für den es, wie der Politiker Gessen notiert hatte, »zwischen abstrakten Überlegungen und der Wirklichkeit, zwischen Legende und Realität« keine Grenzen gab, musste sich irgendwann eine Kluft auftun. Und sie tat sich auf. Indirekt kann man dies aus den Aufzeichnungen schließen. Nikolai Roerich, der sein in Petersburg zur Genüge erwiesenes Talent, sich mächtige Gönner zu verschaffen, keineswegs vergessen hatte, versuchte eben dies auch in New York. Nur hatte er es in New York nicht mit Kunstliebhabern aus dem Hochadel und der Zarenfamilie zu tun, sondern mit den Nachkommen der »robber barons« des 19. Jahrhunderts, den Vanderbilts, Morgans, Goodriches und, ganz oben, den Erben des legendären Rockefeller. In diese erlesenen Kreise zu gelangen war nicht einfach.
Allal Ming versprach Unterstützung. Zum ersten Mal am 19. Mai 1921: »Ich werde Euch von dem trockenen [sic] Rockefeller Hilfe zukommen lassen. Hier winkt das Glück, habt die Kraft, es zu ergreifen.« Und am nächsten Tag wurde Morya noch konkreter: »Ich beeile mich mit Rockefeller. Ich halte es für nötig, eine Schule mit dem Namen Rockefeller zu gründen. Man soll um eine Summe von nicht mehr als $5000 bitten.«
Durch welchen Rockefeller den Roerichs mäzenatische »Hilfe zukommen« sollte, ist leider nicht bekannt, aber dass sich die Roerichs an einen der Rockefellers wandten, davon ist sicher auszugehen. Denn am 9. Juni teilte Morya abends mit:
»Ich freue mich über den Erfolg bei Rockefeller. Ich gebe Euch einen reinen Ort für die Schule.«
Doch leider kann der »Erfolg bei Rockefeller« nicht so durchschlagend gewesen zu sein, da sich die materielle Lage der Roerichs um keinen Deut besserte. Bis zum Frühjahr scheint die Hoffnung Rockefeller ad acta gelegt worden zu sein, denn der Name taucht in den Niederschriften der Botschaften Moryas nur noch einmal und reichlich kursorisch auf.20
Aber am 12. Februar 1922, und zwar um acht Uhr abends, kam eine neue Botschaft:
»Urusvati soll Lichtmann den Rat offenbaren, Fleischmann auf Rockefeller zu lenken. Die Absicht wird sich rechtfertigen.«
Wer dieser Fleischmann war, ist nicht überliefert, aber auch dies scheint vergeblich gewesen zu sein. Es folgten drei weitere, ähnlich fruchtlose Mitteilungen, um dann am 10. April mit dieser Botschaft an Helena selbst zu enden: »Urusvati, bring Roerich bei, dass er zu Rockefeller streben soll.«
Die letzte Eintragung deutet darauf hin, dass Nikolai Roerich die Geduld verloren hatte und er, zumindest in Sachen Rockefeller, nicht mehr an die Versprechungen Moryas glaubte. Auch Morya gab nun auf, und der Name Rockefeller wird lange Jahre nicht mehr genannt werden.
Doch wie stand es mit Helena und ihrer Beziehung zu Mahatma Morya alias Allal Ming? »Glaubte« sie an diese innere Stimme? Fraglos, wenn man die Aufzeichnungen durchsieht. Immer wieder findet man Belege, wie sie »mit sich selbst« spricht, aber dieses zweite Selbst als etwas Fremdes wahrnahm. Hier einige typische Beispiele:
»8. Oktober 1921 sechs Uhr abends. [Auf die Frage Helena Roerichs, wer mit ihr abends spricht?] ›Alles von mir.‹ [Warum kann sie sich nicht an alles erinnern, was gesagt wird?] ›Du wirst dich rechtzeitig erinnern.‹
27. April 1922 neun Uhr abends. [...] [Auf die Bemerkung Helena Roerichs, dass sie eine Menge verworrener Phrasen hört und daher nicht sehr gut zuhören kann.] – ›Man soll zuhören, danach verstehst du. Wenn die Leitungen funktionieren, geht nichts verloren. Später wird der Apparat vervollkommnet. Man soll weniger essen. Man soll keinen kräftigen Kaffee trinken. Man soll kein Fleisch essen. Man soll keinen Spargel essen. Man soll nicht essen, wenn man müde ist.‹
28. April. [...]. [Warum hört sie verschiedene Stimmen?] ›Man muss den Apparat verbreitern.‹«
Den »Apparat verbreitern«, die »Instrumente verfeinern«, das alles gehörte zu den völlig konkreten, dinglichen Vorstellungen, die Helena von der Art hatte, wie die Mahatmas mit ihr in Kontakt traten. Dasselbe galt für »Schambala«, den Rückzugsort der Mahatmas im Himalaya mit seinen »Türmen« und »wissenschaftlichen Laboratorien«. Und wie es sich für ein richtiges »Staatsgebilde« gehörte, so durfte auch eine Bürokratie nicht fehlen. Und natürlich auch nicht das Lieblingsinstrument jedes und besonders eines russischen Bürokraten: Am 15. Mai 1922, um acht Uhr abends, fragte Helena Roerich, welchen Gegenstand sie gesehen habe, der neben dem Papier hing, das Mahatma Morya gerade ansah, und bekam zur Antwort: »Den Stempel unserer Entscheidung über euch.«
Dass Helena Roerich an diese innere Stimme glaubte, schloss allerdings keineswegs aus, dass Mahatma Morya zum einen merkwürdig an ihre eigene Stimme erinnerte, und zum anderen, dass Helena gelegentlich »nachhalf«. Das Erstere, die Ähnlichkeit der Stimme Moryas mit ihrer eigenen, lässt sich leicht nachweisen. Da wären die verunglückten Ausflüge des Mahatmas in das Englische, die hin und wieder dann stattfanden, wenn Personen an den Séancen teilnahmen, die kein Russisch verstanden. Und dann die Klagen Moryas über Urusvatis Küchendienst in jener schweren Anfangszeit oder über ihre ungenügende Kleidung. Und dann auch die Bekräftigung der Autorität Urusvatis im Familienkreis. Was ihren Ehemann anging, so teilte Morya gleich am Anfang mit, wie die Rollenverteilung auszusehen habe. Er habe die Repräsentation nach außen, Urusvati die »Begründung« der Lehre.
So lesen wir kaum zwei Monate nachdem sich Morya »offenbart« hatte, am 2. Juli 1921: »Die Rolle Roerichs ist es, auf Erden ein Lehrer zu sein. Liebe mich, Roerich. Roerich soll keine Bücher lesen, er bekommt Weisheit von uns. [...] Urusvati bekräftigt Roerich mit dem, was sie aus Büchern erfahren hat. Urusvati versteht es besser, Kraft aus Büchern zu schöpfen. Roerich kann mich nur mit seinem reinen Geist verstehen.«
Morya ermahnte Nikolai bei Gelegenheit auch, sich warm anzuziehen, um sich nicht zu erkälten, und immer wieder, ihn zu lieben, ihm zu vertrauen und seinen Ratschlägen zu folgen.
Schwieriger war es mit den beiden Söhnen Helenas. Der jüngere, Swetik, der noch mit den Eltern in New York lebte, nahm an den meisten Séancen gar nicht erst teil, aber auch der in Harvard studierende Juri legte bei seinen Besuchen manchmal ein Benehmen an den Tag, das Morya zu scharfen Worten reizte. So heißt es in den Aufzeichnungen der abendlichen Séance vom 24. Dezember 1921: »Den körperlichen Hunger stillst du nach dem Gebet und die Hände nehme aus der Tasche, wenn du in Berührung mit einer Kraft kommst, die vom barmherzigen Gott gesandt ist. Halte die Minuten des Gesprächs für ein Glück.« Zur Erklärung dieser doch erstaunlich irdischen Worte des Mahatma heißt es in den Aufzeichnungen: »Udraja [der esoterische Name Juris] hatte begonnen, ein Brötchen zu essen, und legte beim Herantreten eine Hand auf den Tisch, die andere Hand blieb in der Tasche.«
Dass Helena »nachhalf«, ist schwieriger nachzuweisen. Aber wie ist folgende Eintragung zu verstehen, vor allem wenn man bedenkt, dass am Vortag wieder einmal von der Niedergeschlagenheit und Verzagtheit Nikolais die Rede war: »Auf einmal sah Helena Roerich das Antlitz von M.M. [Master Morya], das das Haupt von Nikolai Roerich überdeckte. Danach erschien das Antlitz hinter dem Kopf von Nikolai Roerich, und unter der Stirn des Antlitzes, zwischen den Augenbrauen, bildeten sich blaue Fäden, die auf den Kopf von Nikolai Roerich gerichtet waren.«21 Bei dem »Gespräch« verkündete M.M. über seine Schülerin Helena: »Ich habe Euch eine Prüfung gegeben, nehmt sie an! Ich verbürge mich für meine Sache. Ich leite Euch an, die von verschiedenen Seiten Kommenden zu lehren und über ihnen das blaue Feuer zu entzünden.«
Letztlich sollte Morya über alle Zweifel triumphieren und recht behalten. Zumindest, wenn man bereit war, der ganz eigenen Logik des Mahatma zu folgen, der selbst die größten Blamagen umzudeuten wusste. Zum Beispiel die Sache mit dem Nobelpreis.
Es ging darum, dem »Propheten der Schönheit«, dem unermüdlichen Kämpfer für Bildung und Kultur