der »Ballets Russes« waren ins Ausland geflohen.
Die Londoner Rede Nikolai Roerichs gegen die Bolschewiki diente mindestens so sehr als Eintrittsbillet in die besseren Kreise, wie sie tiefster Überzeugung geschuldet war. Das kann man aus der Tatsache schließen, dass dies sein letzter, wenn auch lautstarker Auftritt für die weiße Sache war. Der »Sucher nach heiligen Zeichen« und seine Frau hatten andere Pläne. Politik gehörte nur im weitesten Sinne dazu. Und ein Zufall half bei der Verwirklichung, wie die Roerichs bald sicher glaubten.
1919 lernte Nikolai bei der Suche nach jemandem, der Russisch auf der Schreibmaschine tippen konnte, Wladimir Schibajew kennen, der an der Londoner Universität Sanskrit und Persisch studierte. Der aus Riga stammende junge Mann, der mit einem Buckel von wenig einnehmendem Äußeren war, interessierte sich wie das Ehepaar Roerich stark für jede Art des Okkultismus und für alles, was aus Indien kam. Außerdem war er Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und mit deren führenden Londoner Vertretern bekannt. Durch Schibajew konnten die Roerichs eine Reihe wichtiger Verbindungen knüpfen. Mit prominenten indischen Künstlern und Nationalisten, die in Indien ansässig waren und ihn später mit Männern wie Nehru zusammenführten; mit dem indischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore, der sich von Roerichs Kunst begeistert zeigte und ihn nach Kalkutta einlud, und auch mit Annie Besant, der Vorsitzenden der Theosophischen Gesellschaft (TG) in Indien, sowie mit Bomandschi Pestondschi Wadia, einem führenden Mitglied der TG, der sich gerade in Großbritannien aufhielt.
Bald führten die Roerichs Schibajew bei den Séancen ein, mit denen sie in London wieder begonnen hatten und an denen weitere prominente Mitglieder des Exils, so auch der ihnen schon aus Finnland bekannte Politiker Gessen, teilnahmen. Bei einer dieser Séancen, bei denen es in der Erinnerung von Helena zu den unglaublichsten Vorfällen kam – Münzen fielen von der Decke und Geräusche waren zu hören, als trampelten ganze Elefantenherden durch das Zimmer –, wurden Nikolai Roerich Zeichnungen »eingegeben«, auf denen unter anderem Mahatma Kut Humi zu sehen war. Zweifellos war dies eine »wahre« Eingebung, denn die Abbildung glich stark einer weit älteren, die dem deutschen Maler Schmiechen eingegeben worden war und deren »Echtheit« noch Blavatzky persönlich bestätigt hatte.
Die Abbildung des Mahatma sowie einige weitere der von Nikolai Roerich »automatisch« empfangenen Zeichnungen wurden Wadia gezeigt, der den Künstler daraufhin an das Hauptquartier der Theosophen in Adyar, Indien, empfahl.
Einige Zeit später erhielt Nikolai Roerich einen Brief von Annie Besant persönlich, in dem die Vorsitzende der TG ihm zum Eintritt in ihre Gesellschaft gratulierte und eine offizielle Einladung nach Indien aussprach. Sein Visum bekam Nikolai Roerich am 28. Juli 1920, und er kaufte sofort Schiffstickets für sich und seine Familie sowie Schibajew, der als sein Sekretär mitkommen sollte.
Doch dann folgte eine Katastrophe, der tiefste Schlag, der sich für die Roerichs, die sich ihrem Ziel bereits so nahe geglaubt hatten, denken ließ. Der Finanzier von Diaghilew hatte Bankrott gemacht, und Roerich stand ohne jede Geldmittel da.
Eine letzte Hoffnung waren gute Verkäufe bei einer Mammutausstellung der Werke Nikolai Roerichs. 198 seiner Bilder wurden gezeigt, darunter die Serie »Träume von Indien«, die er erst in London gemalt hatte. Viele der Reichen und Berühmten des damaligen London waren da, und auch Winston Churchill wäre wohl dabei gewesen, hätten Bekannte nicht dringlich von einer Einladung des umstrittenen Politikers abgeraten, da sonst einige andere wichtige Persönlichkeiten nicht gekommen wären.
Im Zentrum der Ausstellung hing das Monumentalgemälde »Der Schatz der Welt«, auf dem ein himmlischer Wächter mit dem »Gral« in der Hand abgebildet war, dem heiligen Kelch, nach dem Parsifal in Wagners gleichnamiger Oper strebt. Die Rede bei dem Bankett hielt der bekannte Schriftsteller und Okkultist H. G. Wells. Beim Heben seines Sektkelches sagte Wells: »Dieser einfache Gegenstand, den niemand von uns als etwas Besonderes ansieht, kann, unter bekannten Umständen, ein seltener Schatz werden.«138 Eine Prophezeiung, die knappe drei Jahre später in Erfüllung gehen sollte, als der Gral tatsächlich auf wundersame Weise wieder in der Welt erschien. Den Roerichs nämlich, und zwar in Paris, in einem noblen Hotel.
Unter finanziellen Gesichtspunkten war die Ausstellung eine Enttäuschung. Im London der Nachkriegszeit saßen selbst bei den Verehrern der Kunst Roerichs die Geldmittel nicht so locker, dass sie seine hohen Preise hätten zahlen können. Und Nikolai Roerich, ein hervorragender Kenner des Kunstmarktes, wusste, zu billig durfte er sich keinesfalls verkaufen, sonst hätte er seinen Marktwert auch in besseren Zeiten gedrückt.
Im Sommer 1920 wurde Nikolai Roerich der Vorschlag gemacht, seine Bilder auf eine Wanderausstellung zu schicken, die drei Jahre lang durch 29 Städte der USA gehen sollte. Die Einladung kam vom Direktor des Chicago Art Institute, Robert Harshe, einem Theosophen, der den Künstler gleich auch noch für drei Produktionen der Chicagoer Oper engagieren wollte. Am 2. Oktober 1920 bestiegen er und seine Familie einen Dampfer, der sie in die Neue Welt brachte.
Teil II
Mahatma Morya und seine Künderin
Kapitel 1
Amerikanischer Albtraum
Im Oktober 1920 traf das Ehepaar Roerich mit den beiden Söhnen in New York ein. Nicht als Immigranten, sondern mit dem Ziel, so lange zu bleiben, bis genug Geld zusammen war, nach Indien zu reisen und endlich den Mahatmas zu begegnen. Anfänglich ließ sich alles gut an. Es wartete bereits die Presse, die das Schiff enterte, noch bevor die Passagiere durch den Zoll waren, um den bekannten Maler und Mitautor von »Frühlingsopfer« zu interviewen. Doch die Ernüchterung setzte schnell ein.
Bald schimpfte Nikolai Roerich über die Kulturlosigkeit der Einheimischen und die Banalität ihrer Ansichten. Und schlimmer noch, selbst das Geld floss im Land des Dollars nicht wie erwartet. Auch in Amerika herrschte Nachkriegskrise und es gab soziale Unruhen, die mit der ersten großen Hexenjagd der amerikanischen Geschichte, den sogenannten »Palmer Raids« (Palmer’schen Razzien) beantwortet wurden. Kommunisten oder solche, die man dafür hielt, wurden in oft zweifelhaften Prozessen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, und selbst die Flüchtlinge aus dem Land der Oktoberrevolution gerieten automatisch unter Verdacht. Den Reichen und Wohlhabenden stand der Sinn in dieser Zeit nicht nach Geldausgeben, und Roerichs Bilder verkauften sich nur sehr schlecht.
Schon im November wurde klar, von dem Bilderverkauf, wie auch den drei Aufträgen für die Oper in Chicago, würden die Roerichs nicht leben können, und so tauchte ein neuer Plan auf. Am Abend des 4. Dezember 1920 legten die Roerichs ihn zum ersten Mal dar. Zuhörer waren Sinaida und Morris Lichtmann, zwei jüdische Emigranten aus Russland, die zu diesem Zeitpunkt eine kleine und schlecht gehende Klavierschule in Manhattan betrieben. Einige Stunden zuvor hatte Sinaida Lichtmann auf einer Vernissage zum ersten Mal die Bilder Nikolai Roerichs erblickt und »direkt der Unendlichkeit« gegenübergestanden, wie sie Jahrzehnte später schrieb. »Die Roerichs luden uns ein, sie noch an diesem Abend in dem Hotel zu besuchen, wo sie abgestiegen waren. Schon vom ersten Moment sprachen sie davon, die Amerikaner mit russischer Kultur und Kunst bekannt zu machen. N.K. Roerich erzählte von seiner Absicht, eine künstlerisch aufklärerische Einrichtung in Amerika zu gründen, und lud uns ein, an all dem teilzunehmen. Wir sprachen lange bis Mitternacht und erzählten ihm von unserem Leben und unserer musikalischen Tätigkeit und gleichfalls über die verbreitete Abwesenheit kultureller Interessen in der amerikanischen Gesellschaft.
Bereits am folgenden Tag übergab uns Roerich einen konkreten Plan für die Arbeit einer Schule der vereinigten Künste, den er zuvor mit Elena Iwanowna ausgearbeitet hatte. Wir begannen mit der Arbeit an der offiziellen Registrierung der Schule, die 1921 eröffnet wurde.«1
1921 wurde auch »Cor Ardens« (lateinisch: flammendes Herz), eine Gesellschaft zur Förderung der Kultur, gegründet, die sich vorläufig durch wenig mehr als ihre beiden illustren Ehrenvorsitzenden auszeichnete. Es waren Rabindranath Tagore sowie der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck, ein Verehrer der Kunst Nikolai Roerichs. Die Gründung von Gesellschaften mit wohlklingenden Namen und das Akquirieren von Ehrenvorsitzenden, die nicht immer mit Wissen der so Ausgezeichneten stattfand, sollte ein weiterer Kernpunkt der Tätigkeit Nikolai Roerichs in Amerika werden.
Sinaida