Ernst von Waldenfels

Nikolai Roerich: Kunst, Macht und Okkultismus


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Weg brachte und in ihm das Bedürfnis weckte, Bücher mit geistigen und religiös-philosophischen Themen zu lesen«.112

      Sich mit der Theosophie zu beschäftigen und ihren Mann dementsprechend zu beeinflussen war da nur der nächste logische Schritt.

      Tatsächlich sind im Werk Nikolai Roerichs ab 1908 deutlich theosophische Elemente spürbar. Einige seiner Gedichte erinnern in Ton wie Inhalt stark an Verse der Blavatzky, und es fehlt auch nicht die für einen überzeugten Theosophen typische Mischung von Religionen und religiösen Zeichen. Für seine treue Anhängerin Tennischewa malte er eine Kirche auf ihrem Landsitz Talaschkino aus und stellte die Gottesmutter in einem Stil dar, der Fürst Schtscherbatow »in Entsetzen versetzte, worauf die Tennischewa schwer beleidigt war. In einer russischen Kirche im Gouvernement Smolensk war eine Gottesgebärerin tibetischen Stils abgebildet.«113 Schtscherbatow war ziemlich nahe an der Wahrheit. Vorbild für die Gottesmutter war die indische Göttin Kali, wie Helena Roerich später in einem Brief bekennen sollte.

      Merklich war der Einfluss der Theosophie auch in den Schriften Roerichs zur Ur- und Vorgeschichte. Hatte er bereits in seiner frühen Phase als Ausgräber eine Tendenz gezeigt, in den Überresten der Vergangenheit vorzugsweise das zu sehen, was der Verehrer der Urslawen sehen wollte, so warf er nach und nach alle Vorsicht zur Seite. Getreu der theosophischen Vorstellung von den Mahatmas als verborgene Antreiber der Entwicklung von Religion und Kultur, postulierte er in dem 1909 erschienenen Artikel »Freude an der Kunst« zum ersten Mal eine Urkultur mit gemeinsamem Ursprung, die bereits in der Steinzeit bestanden habe. Diese war nur der Auftakt zu zahllosen späteren Artikeln, in denen er die erstaunlichsten Behauptungen aufstellte. 1912 schrieb er einen Artikel, der von der Realität von Atlantis ausging, dem Ursprungsort der Mahatmas, und der Zufall, dass einer der historischen Namen Tibets Gota ist, verführte ihn, wie auch die Pseudowissenschaftler der Nationalsozialisten, zu der Spekulation, der Himalaya sei das Ursprungsland der Goten.114

      Sehnsuchtsland der Theosophen in aller Welt war Tibet, wo Madame Blavatzky angeblich ihre Einweihung in die okkulten Wissenschaften erfahren hatte und wo die Mahatmas, verborgen und ungestört von der Welt, an der Evolution der Menschheit zur sechsten Wurzelrasse arbeiteten.

      1909 beschlossen die führenden Theosophen St. Petersburgs, an der Newa einen tibetischen Tempel zu errichten. An vorderster Stelle dabei war Nikolai Roerich. Vergeblich gifteten die orthodoxe Kirche und ihr verbundene Kreise gegen die Errichtung von »Götzenbildern« und die »Rückkehr des Heidentums nach Russland«.115

      Der 1913 fertiggestellte gewaltige Bau, er steht noch heute an einem Arm der Newa, unterscheidet sich nur in einem, aber wesentlichen Detail von seinen tibetischen Vorbildern im Himalaya: In zwanzig Metern Höhe, direkt unter dem Dach, befinden sich schmale bunte Glasfenster, die das spärliche Tageslicht filtern, das in den großen, düsteren Altarraum fällt. Sie waren Nikolai Roerichs Beitrag zu dem Bau und stellen traditionelle, buddhistische Symbole, »die acht glücksbringenden Zeichen«, dar.116

      Der Bau des buddhistischen Tempels in der Hauptstadt, noch dazu unter führender Beteiligung des »wirklichen Staatsrates« Roerich, war nicht nur ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der Orthodoxie. Hier spielten noch ganz andere, geopolitische Motive eine Rolle, die in dem Vorsitzenden des Baukomitees, dem Lama Agwan Dordschiew, verkörpert waren.

      Dieser Mann war ein Wanderer zwischen den Welten, wie er damals nur im Zarenreich denkbar war, dem einzigen Staat der Welt, in dessen Grenzen sich tibetischer Buddhismus und europäische Kultur direkt begegneten.

      Dordschiew stammte von Burjaten ab, einer mongolischen Völkerschaft am Baikalsee, die sich zum tibetischen Buddhismus bekannte und im Dalai Lama ihre höchste geistige Autorität erblickte. Diesem kleinen Volk, auch heute zählen die Burjaten kaum mehr als eine halbe Million, kam bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine unverhältnismäßig große Bedeutung zu. Erst durch die Zaren, die sich der Burjaten bedienten, um das bis dahin noch völlig unbekannte Zentralasien zu erforschen und zu durchdringen, und dann die Sowjets, die einzelne Burjaten für ganz ähnliche Ziele einsetzten.

      Was die Burjaten so besonders machte, war, dass sie als einzige Völkerschaft mit der durch Russland vermittelten europäischen Kultur und Technik vertraut und gleichzeitig Teil der viel größeren Ökumene des tibetischen Buddhismus waren, die ganz Tibet und sowohl Innere wie auch Äußere Mongolei umfasste. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war dies eine noch zutiefst mittelalterliche Welt, die nominell unter der bröckelnden Autorität des chinesischen Kaisers stand, aber bereits dunkel die Bedrohung durch die Machtmittel der Industriemächte wie auch den kommenden Druck Chinas spürte, das 1911 seine erste Revolution erlebte. Es war ein riesiges Gebiet, so groß wie drei Viertel des europäischen Kontinents, und damals noch so wenig erforscht, dass es für weite Teile nicht einmal Karten gab.

      Der 1855 geborene Agwan Dordschiew hatte als Jugendlicher erst ein Gymnasium und dann eine russische Universität absolviert. Danach reiste er nach Lhasa, wo er in einem der großen Klöster in die Feinheiten der Lehre Buddhas eingeweiht wurde und nach jahrelangem Studium den Titel eines »Lcharamba«, eines tibetischen Gelehrten, erhielt. Im abgeschiedenen und unzugänglichen Lhasa, wo man nur nebelhafte Vorstellungen von der Außenwelt hatte, wurde der Burjate mit seiner Kenntnis Europas eine einflussreiche Persönlichkeit und wichtigster Berater des dreizehnten Dalai Lama in außenpolitischen Fragen.

      Als Agwan Dordschiew nach Tibet kam, stand das Land noch unter der nominellen Oberhoheit des chinesischen Kaisers, der mit dem Dalai Lama, dem »Papst« der tibetischen Buddhisten und weltlichen Herrscher, ein Interesse gemeinsam hatte: das Land gegen äußere Einflüsse hermetisch abzuschirmen. Vor allem natürlich gegen die Briten im benachbarten Indien, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts große Anstrengungen unternahmen, Tibet zumindest kartografisch zu durchdringen. Zu diesem Zweck schickte man »Pundits« genannte Mitglieder indischer, aber mit den Tibetern verwandter Völkerschaften los, die sich als Pilger ausgaben, aber Gebetsketten mit hundert statt hundertacht Perlen hatten und im Knauf ihrer Wanderstöcke Kompasse versteckten. Mit Hilfe ihrer Rosenkränze zählten die »Pundits« ihre Schritte ab, und am Knauf ihrer Stöcke kontrollierten sie die Himmelsrichtung. Auf diese Weise kamen zumindest von den bewohnten Gegenden erstaunlich genaue Karten zusammen. Aber große Teile des Landes blieben noch unerforscht.

      Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich wurde in London beschlossen, die nicht mehr »zeitgemäße« Isolierung des Landes gewaltsam zu durchbrechen. Der mit Maschinengewehren ausgerüsteten Younghusband-Expedition stellten sich 1903 tibetische Krieger mit Steinschlossgewehren, Lanzen, Schwertern und angeblich unverwundbar machenden Amuletten entgegen. Es gab ein entsetzliches Gemetzel, und nachdem ein letztes Aufgebot von »Kriegsmönchen« niedergemacht war, wurde Lhasa eingenommen. Der Dalai Lama war da bereits auf dem Weg nach Urga, dem heutigen Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei, die, obwohl gleichfalls noch unter Oberhoheit des chinesischen Kaisers, bereits stark den russischen Einfluss spürte. Dort ließ sich das begeistert begrüßte Oberhaupt auch der mongolischen Buddhisten vorläufig nieder.

      Nachdem mit den Briten ein Vertrag geschlossen worden war, der begrenzten Handel sowie eine Vertretung des Empire in Tibet erlaubte, kehrte der Dalai Lama nach Tibet zurück. Von nun an wachte nicht Peking, sondern London eifersüchtig darüber, dass keine Außenstehenden mehr in jenes Land kamen, das, wie die Younghusband-Expedition gezeigt hatte, ein paar tausend Männern mit Maschinengewehren hilflos ausgeliefert war. Und damit war der Zweck der Expedition auch schon erfüllt. Denn an sich hatte man in England keinerlei Interesse an dieser riesigen, kalten Halbwüste mit kaum zwei Millionen Einwohnern außer dem einen, nämlich keiner anderen Macht die Herrschaft über das nördliche Grenzgebiet Indiens zu überlassen. Mit dieser Macht war Russland gemeint, mit dem Großbritannien in einer mit Geheimagenten geführten Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in Zentralasien stand, die der britische Schriftsteller Rudyard Kipling unter der Bezeichnung »das Große Spiel« (The Great Game) verewigt hat.

      Dieses einzige wesentliche Interesse Londons, die fortgesetzte Isolierung Tibets nämlich, fand seinen Ausdruck schließlich auch darin, dass London 1906, gegen den Willen der Tibeter, die fortbestehende Oberherrschaft Pekings bestätigte. So war man die lästige Pflicht los, die tibetische Außenpolitik zu kontrollieren.

      Doch in Tibet hatte man auch seine