man Agwan Dordschiew nach St. Petersburg, wo er 1905 eintraf.
Selbstverständlich rissen sich Okkultisten aller Couleur und die Theosophen um den Berater des Dalai Lama aus dem geheimnisvollen und kaum erforschten Tibet, das sich hervorragend für Projektionen aller Art eignete. So auch Nikolai Roerich. Von dem Burjaten hörte der Künstler nach der Blavatzky ein weiteres Mal von Schambala, dem Paradies der tibetischen Buddhisten, das jedoch, im Gegensatz zum gelobten Land der Bibel, ein ganz irdisches Gegenstück haben sollte, das irgendwo tief versteckt in Himalaya lag. Auch überreichte Dordschiew Roerich nach Fertigstellung des Tempels ein Geschenk117 des Dalai Lama, womit er dessen Fantasie noch einmal anheizte.
Selbstverständlich erschöpfte sich Dordschiews Petersburger Mission keineswegs in der Beglückung von Okkultisten und Theosophen. Im November 1907 veröffentlichte er einen Artikel in der Zeitschrift der russischen Geografischen Gesellschaft mit dem Titel »Über die Annäherung Russlands an Tibet und die Mongolei«, in dem er eine Zusammenarbeit der drei Völker auf kulturell-ökonomischer Grundlage und die Gründung einer »buddhistischen Großföderation« propagierte.
Es war der Versuch des Burjaten, mit Hilfe Russlands die kulturell engverwandten Mongolen und Tibeter vor der machtpolitischen Expansion Großbritanniens auf der einen und der demografischen Expansion Chinas auf der anderen Seite zu bewahren. Dies waren Überlegungen, die er schon länger hegte und die ihn bei den Briten zum unbeliebtesten Mann in Tibet gemacht hatten sowie ihm den Verdacht eintrugen, er sei ein russischer Agent. Der japanische Mönch Kawaguchi, der sich Anfang des Jahrhunderts verkleidet in der tibetischen Hauptstadt aufhielt, berichtet, Dordschiew, der Vormund des damals noch minderjährigen Dalai Lama, habe ihm gegenüber die Prophezeiung erwähnt, aus Russland werde ein mächtiger Fürst kommen und Tschan Schambala, das nördliche Schambala, eine gewaltige buddhistische Macht, gründen.118 Eine offene Provokation für die Briten im benachbarten Indien und einer der Gründe für die Invasion 1904.
Diese als »Prophezeiung« verkleideten Überlegungen Dordschiews, denn natürlich musste im zutiefst gläubigen Tibet derart Umwälzendes religiös »ummäntelt« werden, trafen auf offene Ohren bei den Imperialisten in Petersburg, die ähnliche Gedanken hegten. Allerdings weniger, um Tibeter und Mongolen vor Fremdherrschaft zu bewahren, als vielmehr um »neuen Lebensraum für Russland« zu erobern, wie es ein »Sprachrohr des Generalstabes« ausdrückte.119 Das alles traf mit der Stimmung jenes Teils der Intelligenzija zusammen, der das »Asiatische« an Russland betonte.
In der schwankenden Gemütslage des silbernen Zeitalters wurden sogar Stimmen wie die des Philosophen Wladimir Solowjew ernst genommen, der Anfang des 20. Jahrhunderts von der Wiederauferstehung der mongolischen Großmacht überzeugt war. Er schöpfte dies aus dem Tibetbuch der beiden französischen Missionare Huc und Gabet, die dort Mitte des 19. Jahrhunderts der buddhistischen Bruderschaft der Kelane begegnet waren, die sich zum Ziel gesetzt hatte, »Tibet, China, die Mongolei und Russland [zu] erobern«, um das Kommen des Buddha Maitreya einzuleiten.120
Doch das alles waren nur Träume, die den harschen machtpolitischen Realitäten nicht standhalten sollten. Die Idee eines von Russland abhängigen zentralasiatischen Großstaats, der alle Anhänger des Dalai Lama, die Tibeter und Mongolen, vereinen sollte, traf auf den heftigen Widerstand Großbritanniens, das dem innerlich zerrissenen Zarenreich bald seine Grenzen aufzeigte. Alles was davon blieb, war die russische Unterstützung für eine Autonomie der Äußeren Mongolei innerhalb Chinas, die 1945 schließlich zur internationalen Anerkennung des neuen Staates führte. Aber der Traum war in die Welt gesetzt. In der kommenden Zeit der Wirren, in der alles möglich schien, wird es mehrere Versuche geben, das Kommen des Buddha Matreya zu beschleunigen.
Einen davon sollte Nikolai Roerich unternehmen. Aber davon konnte noch nicht im mindesten die Rede sein, als Roerich mit Agwan Dordschiew am Bau des Tempels an der Newa zusammenarbeitete. Vorläufig hatte er einen ganz anderen Traum. Er hatte vor, in das geheimnisvolle Indien zu reisen, in das Heimatland Tagores, Ramakrishnas und Vivekanandas. 1913 erörterte er die geplante Reise mit dem in Paris lebenden russischen Orientalisten Golubew, der ihm von den Denkmälern des indischen Altertums und den verlassenen Höhlenstädten Adschanti und Ellori erzählte.121 Und nicht nur nach Indien zog es den Künstler. Dr. Rjabinin schreibt in dem Vorwort zu seinem Tagebuch, er und die Roerich hätten auch über die Lehrer des Ostens gesprochen, deren Lehre die tiefe Kenntnis des Geistes widerspiegele, die sich in geheimen Zentren der Eingeweihten, vor allem in dem der Bruderschaft des Himalaya, angesammelt habe. »Das letztere Zentrum war für uns immer Quelle unübertrefflichen Wissens und der Wahrheit. Den Weg dorthin wollten wir über Indien nehmen.«122 Nikolai Roerich wollte also zu den Mahatmas der Blavatzky nach Tibet aufbrechen, deren Aufenthaltsort er auch zu kennen glaubte: Es war das mystische Schambala der tibetischen Buddhisten.
Kapitel 13
Krieg und Revolution
Der Erste Weltkrieg durchkreuzte die Reisepläne. Die Kriegsjahre verbrachte Nikolai Roerich weiter als Leiter der Kaiserlichen Gesellschaft.
Indirekt bekam er die antideutsche Stimmung in der nun zu Petrograd umbenannten Hauptstadt zu spüren, als der Mob bei Kriegsbeginn nicht nur deutsche Geschäfte verwüstete, sondern auch Brand an die Druckerei Knebel legte, in der sich nur kurze Zeit zuvor Bilder Roerichs befunden hatten, die für einen Bildband benötigt wurden. Proteste gegen die Ausschreitungen sind von Nikolai Roerich nicht bekannt. Dafür startete Roerich anlässlich der Bombardierung der Kathedrale von Reims durch die Reichswehr eine laute Kampagne gegen diese Barbarei, bei der er nicht mit kräftigen Worten sparte und Deutschland für alle Zeiten den Rang einer Kulturnation absprach. Er richtete seine Schreiben auch an die Diplomaten neutraler Staaten in Petrograd, was die Presse in Frankreich und England dankbar aufnahm. Hier war er ein Kind seiner Zeit. Auch deutsche Geistesgrößen wie Gerhart Hauptmann oder Thomas Mann ließen es nicht an chauvinistischen Äußerungen fehlen.
Doch Nikolai Roerich ging noch einen Schritt weiter: Der prominente Künstler forderte eine internationale Konvention zum Schutz von Kulturgütern im Kriegsfall. Sicher war sie ernst gemeint, litt aber unter dem Mangel, implizit nur die gegnerische Seite solcher Taten für fähig zu halten. Nebenbei darf man vermuten, dass der »Prophet der Schönheit und Kultur« an dem guten Licht nicht uninteressiert war, das solche löblichen Absichten auf ihn warfen.
Von kleineren Reisen in die Umgebung der Hauptstadt abgesehen, blieb Nikolai Roerich während der ganzen Kriegszeit in Petrograd. Bis zur Nacht vom 16. zum 17. Dezember 1916, als er die Stadt verließ und mit seiner Familie nach Finnland reiste. Eine aus mehrerlei Gründen seltsame Reise. Zum einen ist der angebliche Grund, den er in seinen Erinnerungen anführt, er habe die Feiertage auf dem Land verbringen wollen, nicht überzeugend. Zumindest nicht, wenn man bedenkt, dass bis zum Weihnachtsfest noch eine Woche Zeit war und der vielbeschäftigte Künstler einen Posten hatte, den er nach eigener Auffassung gerade in der Kriegszeit für sehr wichtig hielt. Immerhin ging es darum, mittels der Kunst die Moral des Heeres zu heben. Und dann war es eine eiskalte Nacht, die Temperatur lag bei minus vierzig Grad und im Waggon war die Heizung ausgefallen. »Natürlich waren die Großmütterchen und Tantchen strikt gegen die Reise, aber wir kamen bestens an«, wie sich Roerich später erinnert. »Das Hotel in Serdobol war völlig leer.«123
Was Nikolai Roerich in seinen Erinnerungen nicht erwähnt, ist, dass in eben dieser Nacht der Favorit der Zarin, der Wunderheiler Grigori Rasputin, ermordet wurde. Und das war wohl mehr als ein Zufall. Nicht in dem Sinne, dass Nikolai Roerich Teil der Verschwörung war. Dazu wäre er viel zu vorsichtig gewesen, und die Bluttat hätte auch nicht seinem Charakter entsprochen. Auch wenn er sie aller Wahrscheinlichkeit nach, wie fast die gesamte Öffentlichkeit, gebilligt hat. Aber es ist sehr gut möglich, dass er von dem geplanten Attentat Kenntnis hatte. Denn der Mörder war niemand anders als der schwerreiche Fürst Felix Jussupow, einer der Patienten Dr. Rjabinins. Und dass Jussupow aus seinen Absichten großen Hehl machte, kann man wirklich nicht behaupten. Selbst der »unrussische« Benois, alles andere als ein Freund ultranationalistischer Ansichten, wie sie die Verschwörer vertraten, notierte einige Wochen vor dem Attentat in sein Tagebuch, Jussupow habe ihn besucht und die ganze Zeit nur über seinen Hass gegen Rasputin gesprochen. Weite Kreise waren in die Pläne eingeweiht. Kreise, mit denen der gut vernetzte