der es »keinen Sinn hatte, sich zu streiten«, wie sich ein Mitarbeiter erinnert.2
Sie stammte aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa, aus einer Weltgegend, in der es periodisch zu mörderischen Pogromen gegen die jüdische Minderheit kam. Sinaida war musikalisch hochbegabt, gab bereits als Kind Klavierkonzerte und siedelte nach ihrem zwölften Lebensjahr mit den Eltern nach Deutschland über, wo sie erst in Berlin und dann in Wien von dem berühmten Pianisten Leopold Godowsky unterrichtet wurde.
Nach dem Tod des Vaters verließ sie 1912 mit ihrer Mutter sowie Morris, ihrem gleichfalls jüdischen und aus der Ukraine stammenden Ehemann, Deutschland und reiste in die USA. Morris stand unter ihrer Fuchtel und sollte zu den neuen, noch bescheidenen, wie auch den späteren weltumfassenden Plänen des Ehepaars Roerich nicht viel mehr als seine Kenntnisse der Kabbala beitragen. Sinaida Lichtmann dagegen sollte zur rechten Hand und wichtigsten Vertrauten der Roerichs aufsteigen.
Vorerst jedoch konnte von großen Plänen keine Rede sein. Die Schule der Lichtmanns ging zwar in der großspurig »Master School of Arts« getauften neuen Einrichtung auf, aber ein Besucher der Räumlichkeiten vermerkte, die Möblierung sei noch 1922 sehr ärmlich und das Piano geliehen gewesen. Es gab so wenig Schüler, dass, um einen besseren Eindruck zu machen, Außenstehende engagiert wurden, Schüler zu spielen, und im Sommer 1922 konnte selbst die Miete nicht mehr bezahlt werden.
Auch die Roerichs gerieten bald in Schwierigkeiten. Das »Hotel des Artistes«, in dem sie in New York untergekommen waren, wollte bezahlt sein, wie auch die Ausbildung ihrer Söhne, die man an den besten Universitäten eingeschrieben hatte. Juri, der ältere, studierte in dem auch damals nicht billigen Harvard und Swjatoslaw, der jüngere, an der renommierten Columbia University in New York.
Die Gebühren hatten die Roerichs gerade noch aufbringen können. Dafür blieben sie die Hotelmiete schuldig, bis das »Hotel des Arts« sie hinausbeförderte. Doch statt die Schulden an das Hotel anzuerkennen, schaltete Roerich einen Anwalt ein. Diesem blieb er so lange sein Geld schuldig, bis der ihm endlich einen Brief schrieb, der mit der ironischen Anrede »My dear Professor« begann: »Nachdem ich lange genug gewartet habe, um mir eine Medaille für christliche Geduld zu verdienen, erlaube ich mir jetzt, Sie daran zu erinnern, dass die 250 Dollar, die Sie mir für meine loyalen Dienste schulden, noch immer unbezahlt sind.« Es folgte eine Liste von elf (!) verschiedenen Streitigkeiten, in denen der »Professor« die Dienste des Anwalts beansprucht hatte. Sechs davon handelten erkennbar von Gelddingen.
»Die Benutzung Ihres Namens durch die Artists League; Sie vs. Johnson wegen $900; der Kredit von Naumburg; der Kredit von Goldberger; der Kredit von Otto Kahn; die Sache Fifth Avenue Bank.«3 Auch waren die Roerichs die Miete der Schule, 312 West 54th Street, schuldig geblieben, und die Fifth Avenue Bank drohte, seine Bilder, die er für einen Kredit von $8000 verpfändet hatte, versteigern zu lassen.
Einer ihrer Jüngerinnen wird Helena Roerich später über diese Schreckenszeit berichten, sie habe zum ersten Mal in ihrem Leben selbst kochen und sogar putzen müssen.4
Die Roerichs waren 1921 erkennbar im sozialen Abstieg begriffen. Ihnen drohte ein Schicksal wie das vieler weißrussischer Emigranten, die von der Spitze der Gesellschaft ins tiefste soziale Elend abgestürzt waren. Im Berliner Stadtteil Charlottenburg, zu jener Zeit Charlottengrad genannt, drängten sich auf den Bürgersteigen Russen, die ihre letzten Ringe an Passanten verkauften; in Paris schlugen sich ehemalige Großfürsten als Droschkenkutscher durch, und im Hafen von Schanghai machten adelige Fräulein chinesischen Prostituierten Konkurrenz. In Schanghai, wo das europäische Prestige nicht nur durch weiße Prostituierte, sondern auch durch schlichte Bettelei ehemaliger Soldaten und Offiziere erheblich ins Wanken geriet, erwogen die Kolonialmächte sogar, jedem geflüchteten Russen monatlich einen Betrag auszuzahlen, um sie endlich von den Straßen zu bekommen. Doch letztlich siegte der Geiz und die Flüchtlinge wurden ihrem Elend überlassen.
Von der hoffnungslosen Atmosphäre in den Zentren der Emigration wegzukommen war für Roerich, dem auch Angebote aus Paris vorgelegen hatten, einer der Gründe gewesen, nach Amerika zu kommen. Jetzt waren er und seine Frau auf dem besten Weg, das Schicksal ihrer geflüchteten Landsleute zu teilen.
Möglicherweise nahm Nikolai Roerich in dieser Lage sogar Zuflucht zur Kunstfälschung. Jedenfalls versuchte er 1920/21 mehrmals ein Bild von Rembrandt zu verkaufen, von dem unklar ist, wie es in seine Hände gelangt war. Aus Petersburg kann er es kaum mitgenommen haben, und in der Emigration fehlte ihm das Geld. Aber es gibt eine weitere Möglichkeit. 1922 notierte seine Anhängerin Sinaida Lichtmann in ihr Tagebuch: »NK erzählte eine lustige Geschichte über den bekannten Pariser Kunsthändler Selmeier. Er bestellte bei einem Künstler eine Kopie von Rembrandt für 250 Francs. Danach bat er ihn, mit seinem Namen zu unterschreiben, und schickte dieses Bild nach Amerika. Gleichzeitig sandte der Kunsthändler eine anonyme Denunziation an den amerikanischen Zoll, dass Selmeier ein Rembrandt-Bild mit einer fremden Unterschrift nach Amerika geschickt habe. Der amerikanische Zoll hielt das Bild fest und verhängte einen Strafzoll. Selmeier schwor, dass dieses Bild nicht von Rembrandt, sondern von eben diesem Künstler stamme. Der Zoll antwortete ihm, dies sei ein echter Rembrandt. Man zwang ihn, eine große Strafe zu zahlen, und gab ihm eine Bestätigung. So konnte er das Bild in Amerika für eine gewaltige Summe verkaufen.«5
War Nikolai Roerich über eine Variante dieses Tricks an ein Bild von Rembrandt gekommen? Zuzutrauen wäre es ihm, denn als alles nichts fruchtete und die Lage sich nicht verbesserte, versuchte er es schließlich mit einem Versicherungsbetrug. Mit Hilfe eines weiteren Anwaltsbüros – diesmal Bloomberg & Bloomberg – wandte er sich an das Chicago Art Institute mit der Behauptung, man habe seine Bilder beschädigt. J. Arthur McLean, der Geschäftsführer der Kunsteinrichtung, antwortete am 17. August 1922: »Ich bin verwundert über ihre Annahme, dass an der Sammlung ein Schaden von 18000 oder 19000 Dollar entstanden sein soll. Das kommt mir so unglaublich vor, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass Sie das ernst meinen.«6
Ein späterer Jünger der Roerichs wird notieren, er sei dabei gewesen, wie der Künstler die angeblich schwerwiegenden Schäden in dreißig Minuten behoben habe.7
In diesen verzweifelten Jahren übernahm immer mehr ein Mann aus dem fernen Indien das Kommando. Es war niemand anders als Mahatma Morya, jener uralte Weise im Himalaja, bei dem Madame Blavatzky – nach ihrer Einreise nach Tibet versteckt unter Heu – Mitte des neunzehnten Jahrhunderts drei Jahre lang als seine »Chela« die Geheimwissenschaften studiert haben soll. Er kommunizierte mit der Familie durch Helena, die Frau des Künstlers, und teilte ihnen bald seine verblüffenden Pläne mit. Doch bevor wir zu diesen Plänen kommen, ist es nötig, einen Blick zurück in das vorrevolutionäre Petersburg und die Ehe von Nikolai und Helena Roerich zu werfen.
Keine Frage, Helena beeinflusste ihren Mann auf ungewöhnlich starke Weise. Sina Lichtmann notierte 1922 in ihr Tagebuch: »Sie ist NKs Inspiration. Ohne sie malt er keine Bilder und bittet sie immer, den Platz auszuwählen, wo er malen soll, und ihn an gesehene Farben zu erinnern. Wenn der Ort ausgewählt ist, aber ihr das Sujet nicht gefällt, dann wird er um nichts in der Welt malen.«8
Helena Roerich, die Urgroßnichte des Feldherrn Kutusow, des Siegers über Napoleon, scheint schon früh in der Ehe das Kommando übernommen zu haben. Allerdings lenkte sie ihren Mann eher indirekt, ließ ihm die Illusion, alles aus eigenem Antrieb erreicht zu haben. Das zumindest ist die Sicht von Helena Roerich selbst, die ihren beiden Jüngerinnen Sinaida und Esther Lichtmann viele Einzelheiten aus ihrer Ehe erzählte.
Die blendend schöne Helena, »toujours belle«, wie Benois in sein Tagebuch notierte, leitete laut Sinaida Lichtmann den Aufstieg ihres Mannes in der kaiserlichen Gesellschaft. Sie war es auch, die ihn auf die Theosophie gestoßen hatte.
Helena Roerich hatte viel Zeit für sich selbst in St. Petersburg. Wie in besseren Kreisen üblich erledigten Angestellte alle Arbeiten im Haus. Wie Esther Lichtmann aufschrieb, »liebte sie die Einsamkeit. Sie nahm sich jeden Morgen zwei Stunden und befahl, sie nicht zu stören. Sie sagte, sie ziehe sich an, aber in Wahrheit saß sie und las oder, am wichtigsten, dachte nach.«9 Dabei kamen ihr manchmal visionäre Erlebnisse, die sie, wie auch ihre Träume, dem berühmten Psychiater Bechterew mitteilte. Ein Traum sei so farbig gewesen, dass Bechterew