Ernst von Waldenfels

Nikolai Roerich: Kunst, Macht und Okkultismus


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sei, »hat die Evolution den Gipfel der physischen Entwicklung erreicht und sie mit dem physisch Perfekten gekrönt. Von diesem Moment an beginnt die geistige Entwicklung.«105 Daher hätten die Mitglieder der großen weißen Bruderschaft diesen historischen Augenblick gewählt, um die Theosophie den Massen durch ihre Jüngerin zu offenbaren. Der Abstieg der Menschheit in die Materie sei vollendet, und damit sei sie bereit, das Wissen von der Geheimlehre zu erhalten, welches sie auf ihrer Reise Richtung Vergeistigung zur endlichen Vereinigung mit dem Göttlichen führen werde.

      Anfänglich fand Madame Blavatzky wenig Anklang. Dann aber reiste sie mit Oberst Olcott nach Indien und wurde dort mit großem Erfolg empfangen. Von indischen Intellektuellen allerdings und nicht von den britischen Oberherren. Deren Überlegenheitsgefühl gegenüber den »Eingeborenen« war zu dieser Zeit so groß, dass sie, wie auf Ceylon, wo der Buddhismus betroffen war, versuchten, örtliche Religionen zu unterdrücken und die Bevölkerung mit allen Mitteln zur britischen Staatsreligion zu bekehren.

      Die Kolonialbeamten, die an der angeblichen »Bürde des weißen Mannes« trugen, »die Eingeborenen zu zivilisieren«, witterten in der Theosophie eine gefährliche Tendenz, das indische Selbstbewusstsein zu heben, und in Madame Blavatzky eine russische Spionin. Madame Blavatzky, die jede Art Aufmerksamkeit genoss, sollte später Andeutungen machen, die diese – bis heute unbewiesenen – Gerüchte bestätigten. Damit verstärkte sich nur noch die Antipathie der Behörden, und Annie Besant, Blavatzkys Nachfolgerin, sollte den Ersten Weltkrieg im Gefängnis verbringen. Auch Nikolai Roerich, der nächste Auserwählte der Mahatmas, sollte dieses Misstrauen noch zu spüren bekommen.

      Nach Errichtung zahlreicher Zweigstellen in Indien und der Erwerbung eines großen Areals in Adjar, einem Vorort von Madras, wo das Hauptquartier der Gesellschaft eingerichtet wurde, kehrte Madame Blavatzky nach Europa zurück, um für die Theosophische Gesellschaft werben. Dabei geriet sie ins Visier der Gesellschaft für psychische Forschungen in London.

      Abgesehen von Blavatzkys angeblichen psychischen Fähigkeiten waren die Mahatmas und die große weiße Bruderschaft das größte Problem der Glaubwürdigkeit der theosophischen Bewegung. Hätten die Mahatmas weiter ruhig im Himalaya gelebt und nur über ihre »Chela« Blavatzky mit der Welt Verbindung gehalten, hätte ihre Existenz wie bisher nur auf den Behauptungen der Madame beruht und wäre unüberprüfbar geblieben. Doch mit dem stürmischen Wachstum der Gesellschaft in Indien gingen die Mahatmas dazu über, mit führenden Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft direkt zu kommunizieren. Briefe fielen von der Decke oder wurden geheimnisvoll auf anderen Wegen zugestellt. Als dann große, schweigsame, asketische Hindus, ganz in Weiß und mit einem Turban bedeckt, einzelnen Personen erschienen, vermutete die Gesellschaft für psychische Forschungen eine Täuschung.

      Im Mai 1878 kam es zu einem ersten großen Skandal, als sich Emma Goulomb, eine alte Freundin und Verbündete von Blavatzky, gegen sie wandte. Mrs. Goulomb verkündete öffentlich, Madame Blavatzky sei eine Fälscherin und in dem okkulten Zimmer gebe es »eine Falltür, um Briefe von der Decke regnen zu lassen«.106

      Darauf schickte die Gesellschaft für psychische Studien eines ihrer Mitglieder, Richard Hodgson, nach Adjar, um die Sache an Ort und Stelle zu untersuchen. Dort angekommen, entdeckte er, dass man die Beweise im okkulten Zimmer zerstört und die Wände neu verputzt hatte. Damit nicht genug, fand er in den nächsten drei Monaten auch noch heraus, dass die Briefe der Mahatmas ausschließlich auf Englisch und noch dazu in Blavatzkys Handschrift verfasst waren. Von Kleinigkeiten wie dem »tibetischen« Briefpapier gar nicht zu reden, das man in Darjeeling käuflich erwerben konnte und das zum Schreiben der Briefe erst nach dem Besuch der Blavatzky eben dort in Gebrauch gekommen war. Schließlich gaben indische Mitglieder der Gesellschaft zu, in die Verschwörung eingeweiht zu sein.

      Die Gesellschaft für psychische Studien zog folgenden Schluss: »Was uns betrifft, so betrachten wir sie weder als die Sprecherin verborgener Weiser noch als bloße und vulgäre Abenteurerin. Wir glauben, dass Sie es verdient hat, auf ewig als eine der erfolgreichsten, erfindungsreichsten und interessantesten Hochstaplerinnen der Geschichte bezeichnet zu werden.«107

      Der Skandal war gewaltig. Oberst Olcott, der Mitbegründer der Theosophischen Gesellschaft, verbannte sie aus Adjar, und Blavatzky kehrte nach Europa zurück. Erstaunlicherweise war das keineswegs das Ende der Theosophie und schon gar nicht der Blavatzky. Ganz im Gegenteil. Ihre Wohnung in der Lansdowne Road 17 wurde zur Pilgerstätte, und »Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler, Aristokraten und Okkultisten jeglicher Art kamen, um die große Russin mit den enormen und eindringlichen Augen, den langen Fingern und eleganten Händen und der scharfen Zunge zu besuchen«.108 1888 veröffentlichte sie in London ihr zweites, großes Werk Die Geheimlehre, und als sie in London 1891 starb, wurde sie von Tausenden betrauert. Ihr Todestag, der 8. Mai 1891, wird bis heute von Theosophen in aller Welt als »Tag des Weißen Lotus« begangen.

      Auch Master Morya und Kut Humi, die beiden Mahatmas und persönlichen Lehrer Blavatzkys, waren alles andere als diskreditiert. Nach dem Tod der Blavatzky fing ihr Siegeszug erst richtig an. Sie tauchten bei Séancen auf, gaben Malern wie dem Deutschen Hermann Schmiechen via »psychischer Eingebung« ihre Porträts ein und fuhren fort, Theosophen aller Nationen mittels »automatischen Schreibens« zu instruieren. Schließlich sollten sie niemand anders als Nikolai Roerich als ihren Lieblingsschüler und Messias auswählen. Allerdings das erst später, obgleich der Maler schon in seiner Petersburger Zeit mit den Schriften der Blavatzky vertraut war.

      Kapitel 12

      Träume von Indien und Tibet

      Es war der Nervenarzt Dr. Rjabinin, der Verfasser des Tagebuchs der Tibetexpedition, der die Roerichs auf die Blavatzky aufmerksam machte. Dr. Rjabinin hatte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Er behandelte Patienten aus besten Kreisen, wie Fürst Felix Jussupow, einen der reichsten Männer des Landes, und sogar den japanischen Thronfolger, als dieser vor dem Ersten Weltkrieg die russische Hauptstadt besuchte. Nebenbei fand er noch Zeit für das im Vorwort des Tagebuchs vielsagend beschriebene Interesse an »Experimenten im Bereich des Geistes«, das er mit den Roerichs geteilt habe.

      Esther Lichtmann, eine der Jüngerinnen Helenas, wird 1930 aufschreiben, »wie Dr. Rjabinin ihr [Helena Roerich] eines Tages von der Blavatzky erzählte [...] und sie zur Theosophischen Gesellschaft ging, die sich in genau demselben Gebäude befand, in dem einmal EI [Elena Iwanowna, d.h. Helena Roerich] gelebt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Dort traf sie eine alte dicke Frau mit Strickzeug in den Händen. Als EI sie um Bücher bat, sagte diese ihr, dies sei nicht so einfach und sie müsse erst Mitglied der Theosophischen Gesellschaft werden. EI war bereit, aber man erwiderte ihr, dass auch dies nicht so einfach ginge und Madame Kamenskaja [die Vorsitzende der russischen Sektion] alle, die Mitglied werden wollten, erst einer Prüfung unterziehe und dass es möglich sei, dass EI diese nicht bestehe. Natürlich hatte EI keine Lust auf solch einen Unsinn und begann in Buchläden zu suchen.«109

      Die Urgroßnichte Kutusows war niemand, der sich von einer Madame Kamenskaja Vorschriften machen ließ, und schon gar nicht wollte sie Mitglied in einer Organisation werden, bei der andere die Regeln aufstellten. Viel eher schon wollte sie selbst eine solche gründen. Aber das lag gut zehn Jahre entfernt.

      In den Jahren vor der Revolution waren ihre Kinder noch klein. Auch beriet sie ihren Mann bei seiner Karriere. Laut ihren eigenen Aussagen, die zu verschiedenen Zeiten von ihren beiden Lieblingsjüngerinnen, Esther und Sinaida Lichtmann, protokolliert wurden, hatte sie bereits früh entscheidenden Einfluss genommen und den Aufstieg ihres Mannes in der Kaiserlichen Gesellschaft geleitet, indem sie »seinen Geist entflammte und seine Gedanken lenkte. Klug war er schon immer gewesen, aber er konnte sich nicht entscheiden, und manchmal zeigte er menschliche Schwächen, die sie bezwingen musste.«110

      Und nicht nur in Sachen Karriere hörte ihr Mann auf sie. Manchmal seien ihr morgens Visionen gekommen und »sie erblickte eine Hand, die ihr Nummern zeigte, und wenn er [Nikolai Roerich] dann bestimmte Wertpapiere mit diesen Nummern kaufte, dann machten sie immer einen Gewinn«.111

      Helena, die das Leben einer Dame aus gutem Haus führte, mit Gouvernanten für die Kinder und Dienstboten für den Haushalt und reichlich Freizeit, erzählte