und über 800 Sachbücher dokumentiert, die sich nur mit Okkultismus befassen; die meisten davon erschienen in den Jahren nach 1905.72 »Überall gibt es Publikationen über Hypnotismus und ähnliche mystische Fragen«, schrieb ein überwältigter Zeitgenosse. »In den Fenstern der Buchläden und den Aushängen der Zeitungskioske, überall springen einem diese Bücher über Spiritismus, Handleserei, Okkultismus und Mystizismus in allen Variationen entgegen. Selbst unschuldige Bücher werden mit Buchdeckeln verkauft, die mit das Auge beleidigenden mystischen Emblemen und Symbolen dekoriert sind.«73
»Der Okkultismus in einer verwirrenden Vielfalt von Formen wurde die Lieblingsbeschäftigung der Zeit«, wie die Historikerin Maria Carlson in ihrem Buch über den Einfluss der Theosophie auf das silberne Zeitalter schreibt. Weiter stellt sie fest: »Jeder gebildete Leser, der kein Einsiedler war, war zumindest oberflächlich mit Theosophie und Spiritismus vertraut. Aber da gab es auch das Rosenkreuzertum, die Freimaurerei, den Martinismus und natürlich die aufsehenerregenden Erscheinungen des populären Mystizismus: den Tarot, die Schlafwandelei, die Handleserei, den Mesmerismus, die Astrologie und die Geomantik.«74
Die Zeitgenossin und bekannte Schriftstellerin Nina Berberowa schrieb später, im vorrevolutionären Russland habe es »keinen Beruf, keine Institution und keine zivile oder private Organisation oder Gruppe gegeben, die ohne Freimaurer war«.75
Am bedeutendsten unter den okkulten Beschäftigungen war zweifelsfrei der Spiritismus, das heißt der Glaube an die fortgesetzte Existenz der Toten und die Fähigkeit der Lebenden, mit ihnen durch ein Medium in Kontakt zu treten.
Wie populär die Geisterbeschwörung war, das zeigt Rebus, die mit 16000 Abonnenten wichtigste Zeitschrift der Spiritisten des vorrevolutionären Russland. Dort findet man die erstaunlichsten Artikel. 1914 zum Beispiel wurde von dem »geheimnisvollen Hund Dschek« berichtet, ein »Wunder der Natur« und »ernsthafter Konkurrent des Menschen in Sachen Hellsehen und Gedankenlesen. Alle Professoren, Ärzte und Studenten und die gesamte wissenschaftliche Welt interessieren sich für den geheimnisvollen Hund. [...] Auf blendende Weise ist der wissenschaftlichen Welt bewiesen worden, dass auch Tiere hellsehen können, was alle Ärzte und Wissenschaftler bisher bestritten haben. Dschek errät aufs Genaueste, wie viel Geld die Anwesenden in der Tasche haben, wie alt sie sind, wann sie geheiratet und wie viele Kinder sie haben. Wie viel Gehalt sie bekommen, die Zahlen, die Anwesende gewürfelt haben, und welches Lotterieticket gewinnen wird, was dem Hund bereits eine Unmenge Dank eingetragen hat.«76
Auch wenn der Artikelschreiber wohl übertrieben hat, wenn er von der »gesamten wissenschaftlichen Welt« schreibt, die sich für den hellsehenden Hund interessiert habe, so steht außer Zweifel, dass sich einige der besten Wissenschaftler Russlands intensiv mit allen Aspekten des Okkultismus befassten. Der Chemiker Mendelejew, der Begründer des Periodensystems der chemischen Elemente, bekannte sich nach anfänglicher Ablehnung 1900 zum Spiritismus77, und der berühmte Psychiater Bechterew, nach dem Regionen des Gehirns und eine Nervenkrankheit benannt sind, betrieb ausgedehnte Studien zur Gedankenübertragung wie auch zu ihrer krankmachenden Variante, der »psychischen Infektion«, von deren Realität er überzeugt war.78 In den zwanziger Jahren sollte Bechterew Chef eines eigenen Instituts, des »Instituts des Gehirns«, werden, in dem er neben mehr konventionellen Forschungen auch Untersuchungen zu außersinnlichen Phänomenen betrieb. Und sogar die Geheimpolizei wird ein eigenes Forschungsinstitut betreiben, in dem es unter anderem um das »Gedankenlesen« ging, und man geht wohl nicht fehl, wenn man vermutet, dass die bekannten Anstrengungen zur »Desinfektion« von Trägern »kranker Gedanken«, die die sowjetische Geheimpolizei durchführte, u.a. auf Bechterews Überzeugungen zurückzuführen waren.
Kapitel 9
Von wundertätigen Mönchen und Gotterschaffern
Der Okkultismus erfasste die höchsten Kreise des Landes und war zweifellos ein Faktor im kommenden Zusammenbruch der alten Ordnung. Das berühmteste Beispiel war die Zarenfamilie selbst. Der Bruder des Zaren, Georgi Michailowitsch, sowie seine beiden Onkel, Nikolai Michailowitsch und Peter Nikolajewitsch, waren Mitglieder im Geheimorden der Martinisten, einer freimaurerähnlichen Organisation. Als Spiritus Rector der Martinisten trat der Franzose Papus auf, über den es in dem Standardwerk The Occult in Russian and Soviet Culture heißt: »Der allgegenwärtige Papus (Gérard Encausse) war der führende französische Okkultist des Fin de Siècle. Elf seiner zahlreichen Werke über die Kabbala, Alchimie, Spiritismus, das Rosenkreuzertum und den Tarot wurden in das Russische übersetzt. Eine von ihm gegründete Faculté des Sciences Hermétiques zog russische Studenten zu okkulten Kursen an, die zur Basis für viele private Studienkreise in Russland wurden. Papus wurde mit seinen Verbindungen zur Freimauerei und zum Rosenkreuzertum ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den russischen Okkultisten und der französischen Blüte des Okkultismus.«79
Es gibt Vermutungen, sogar der Zar selbst sei Martinist gewesen. Zumindest ist belegt, dass Papus im Oktober 1905, die erste Revolution war auf ihrem Höhepunkt, bei einer Séance am Zarenhof mit »intensiver Konzentration des Willens« Alexander III. kontaktierte, den Vater Nikolais II., der seinem Sohn riet, gegen die Revolution standhaft zu bleiben.80 Noch größeren Einfluß bei Hof, allerdings nur bis 1903, genoss ein weiterer Franzose aus der Umgebung von Papus, ein Wunderheiler namens Nizier Anthelme Philippe, allgemein nur als »Philippe« bekannt. Philippe, der behauptete, Arzt zu sein, war in seiner Heimatstadt Lyon dreimal zu Geldstrafen wegen Hochstapelei verurteilt worden. Der angebliche Doktor, dessen Wesensart von seinen Anhängern als »beruhigend und stärkend« beschrieben wurde und dessen »geringste Bewegung heilende Wirkung« gehabt haben soll, versprach der Zarin, ihr nach vier Mädchen endlich zu einem Thronfolger zu verhelfen.81
Philippe hatte bald solchen Einfluss am Hof, dass die russische Regierung in Paris intervenierte, der ehemalige Fleischergeselle möge doch außerhalb der Reihe zum Arzt ernannt werden. Aber die Franzosen blieben standhaft. So verlieh man ihm schließlich in Petersburg ein Arztpatent. Das Anfang vom Ende für Philippe kam, als die Zarin 1902 wieder schwanger wurde und Philippe weissagte, das Geschlecht des werdenden Kindes sei männlich. Bekanntlich versetzt der Glaube Berge, nur leider stellte sich heraus, dass der Glaube der Zarin an Phillippe eine Scheinschwangerschaft zur Folge gehabt hatte. Es gab einen Skandal, der sich bis in die Petersburger Presse verbreitete. Der Wunderheiler musste nach Frankreich zurückkehren, und dort ereilte ihn die Rache der russischen Geheimpolizei, der der dickliche Franzose mit dem Walrossschnauzbart schon lange ein Dorn im Auge gewesen war. Die Kollegen von der Sûreté entfesselten gegen den Wunderdoktor ein Kesseltreiben und ein Jahr später erlag er einem Herzinfarkt.
Der orthodoxen Kirche waren die Okkultisten am Hof ein gewaltiges Ärgernis. Die Staatskirche, die nicht einmal über einen Patriarchen verfügte, sondern seit Peter dem Großen Teil des Staatsapparats ohne jede Eigenständigkeit war – sogar das Beichtgeheimnis konnte auf Anfragen der Geheimpolizei aufgehoben werden –, fürchtete nach dem Schwinden ihres Einflusses auf die Gesellschaft, nun auch den Hof zu verlieren. Um das Feld nicht den Okkultisten zu überlassen, lancierte man eine Reihe von Wunderheilern, Hellsehern und »heiligen Mönchen« der Staatskirche an den Hof, die sich dort allesamt nicht lange halten konnten. Bis auf den letzten, Grigori Rasputin, der sich als so erfolgreich erwies, dass er schließlich seine erstweiligen Förderer, den Bischof Hermogen und den Leiter der Peterburger geistigen Akademie Theophan, absetzen ließ, als diese versuchten, ihn wieder loszuwerden.
Der halbe Analphabet Rasputin, mit seiner »echt bäuerlichen, einfachen Frömmigkeit«, der anfänglich der gehobenen Geistlichkeit der Hauptstadt als geeignet erschien, der blutleeren Staatskirche zumindest am Hof zu neuem Ansehen zu verhelfen, war, wie man zu spät bemerkte, alles andere als ein getreuer Sohn der Kirche, sondern durch das Altgläubigentum geprägt. Die Altgläubigen gingen auf die russische Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert zurück, als Zar Alexej und Patriarch Nikon neue Riten einführten, die von vielen – darunter gerade den frömmsten – Priestern und Laien abgelehnt wurden. Bis zum 20. Jahrhundert schwer verfolgt, spalteten sich die »Altgläubigen« wiederum in eine Vielzahl von Untersekten auf und nahmen mit der Ausbreitung nach Sibirien in Einzelfällen auch Elemente des Schamanismus und des tibetischen Buddhismus auf, was in den zwanziger Jahren das Interesse Nikolai Roerichs weckte. Man schätzt, dass am Vorabend