Jan-A. Bühner

Jesus und die himmlische Welt


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biblischen Tradition an der Zionserwartung hängt. Über die biblische Grundlage hinaus weist die explizite Formulierung einer Engelgestaltigkeit der verklärten Gemeinde und ihres himmlischen Repräsentanten. Schon terminologisch durchbricht 1Hen mitunter die sonst durchgehaltene Trennung von (irdischen) ‚Gerechten und Auserwählten‘ einerseits und (himmlischen) ‚Heiligen‘ andererseits.78 Damit ist deutlich, dass die normale der Schöpfungsordnung entsprechende Trennung von Mensch und Engel, himmlischer Gemeinde und irdischer Gemeinde, ja von Himmel und Erde nicht absolut gilt. Das Noahbuch nennt in 69,11 einen Grund: Die Menschen sind im Ursprung nicht anders als die Engel geschaffen worden, damit sie gerecht und rein bleiben; deswegen sollen sich die Gerechten in Engelgestalt zurückwandeln (51,4). Diese angelogische Anthropologie hat kultische Wurzeln.79 Der Himmel ist der Bereich göttlicher Heiligkeit und Reinheit; deshalb heißen die Engel ‚Heilige‘ und ‚Weiße‘ .80 Der Himmel ist für 1Hen, und wohl für das ganze antike Judentum, kultisch bebildert. Die irdische Kultgemeinde partizipiert an einem Kultort, der aus der himmlischen Heiligkeit als Sitz der Gegenwart Gottes abstrahlt. Die Teilnehmer am irdischen Kult kommen in Kontakt mit einer überirdischen, himmlischen Heiligkeit; dies ist ein gefährlicher Kontakt, sofern man als Mensch der himmlischen Heiligkeit entsprechen müsste, was man nicht kann. Daraus entsteht die Erwartung einer Verwandlung in himmlisch-engelmäßige Reinheit und Heiligkeit.

      Der Kontakt zur himmlischen Heiligkeit wird zunächst brisant im Priesterdienst. Der Priester muss sich reinhalten und weiße Schutzkleidung anziehen.81 Für den Hohenpriester ist der Dienst am Versöhnungstag geradezu lebensgefährlich. Andererseits sind Schutzmaßnahmen im Grunde gewährte Anpassungen an die himmlische Reinheit. Der Priester wird durch göttliche Stiftung für seinen Dienst zugerüstet. Mal. 2,7 weiß darum, dass der Priester im Grunde מלאך Gottes ist: Die Lippen des Priesters bewahren Erkenntnis, und von seinem Munde sucht man Weisung. Auch Philo deutet Lev 16,17 als gewährte Anpassung an die himmlische Heiligkeit. Der Hohepriester muss und darf sich in einen Engel verwandeln.82 Die rabbinische Überlieferung deutet das Hinaufsteigen der Priester auf den Altarstufen als Aufstieg in den über dem Altar offenen Himmel hinein.83 Dass im Kultus die Himmlischen und damit das erste und höherwertige Glied der Schöpfung präsent ist,84 führt also einerseits zum Vorgang der Sonderung und andererseits zur Eröffnung der Möglichkeit, an der himmlischen Heiligkeit, Reinheit und Gerechtigkeit teilzubekommen. Die Vollendung dieser zweiten Möglichkeit, nämlich Glied himmlischer Reinheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit zu werden, setzt die Überwindung aller Unreinheit, Unheiligkeit und Ungerechtigkeit voraus. Deswegen ist im 1Hen die Engelwerdung der gerechten Gemeinde an die vom Himmel ausgehende Verklärung der irdischen Schöpfung gebunden. Während der Kultus in Jerusalem durch Regression die Heiligkeit schützen musste, weiß die apokalyptische Gemeinde um die Hilfe der Himmlischen, durch welche die himmlische Reinheit und Heiligkeit gleichsam aggressiv wird und die Schöpfung in Richtung auf die Verklärung hin in Ordnung bringt.

      Versucht man, von dieser kultischen Grundlage her die Engels- und Verklärungsmotive zu ordnen, so erkennt man, dass die kultische Gemeinschaft der irdischen Gemeinde und der himmlischen Engelschar das Hauptmotiv zu bilden scheint. In der Thronvision des Noah stehen die Engel und die Gerechten um den Thron Gottes (60,2). Ist in der klassischen Thronvision des Jesaja der himmlische Engelchor anwesend, so ist in 1Hen dieser die Vision einleitende Hintergrund um die Repräsentanten der irdischen Gemeinde erweitert. Entsprechend Ps 29 spricht 1Hen 36 von den großen und herrlichen Wunderwerken der Schöpfung, die die Engel und die Geister der Menschen gemeinsam erkennen und loben. Die Himmel und Erde einende Schöpfungsordnung ist das Ziel der gemeinsamen kultisch-apokalyptischen Erkenntnis und des kultischen Lobpreises der Engel und Menschen umfassenden heiligen Gemeinde.

      Die kultische Grundlage der Engelgemeinschaft ist auch im Thema der Fürbitte erkennbar: Nach 39,4ff. legen die Heiligen Fürsprache für die Menschen ein. Der Kontext zeigt, dass die heiligen Engel von dem Ort aus Fürsprache halten, an dem auch die Wohnungen der Gerechten sind. Der himmlische Chor der Fürbitter besteht aus Engeln und aus verklärten Gerechten. Der irdischen Gemeinde steht nicht einfach die himmlische gegenüber, sondern beide sind dadurch vereint, dass die himmlische Gemeinde durch die Verstorbenen vergrößert wird. In 100,5 wird der Gedanke der fürbittenden Gemeinschaft so ausgedrückt, dass jeder irdische Gerechte und Heilige einen heiligen Engel als Schutzpatron bekommt, der sein Geschick bewahrt.85 Die kultische Erkenntnis-, Lobpreis- und Fürbittgemeinschaft zwischen irdischer und himmlischer Gemeinde ergibt zwangsläufig die Erwartung einer tatsächlichen Vereinigung an einem gemeinsamen Wohnort. Dieser Wohnort ist im 1Hen das Paradies, in dem die Gerechten und Auserwählten wohnen und in dem der Baum der Weisheit steht (32,2f.; 60,8). Nach 48,1f. schaut Henoch einen Brunnen der Gerechtigkeit an jenem Orte und viele Brunnen der Weisheit; daraus trinken die Glieder der himmlisch-eschatologischen Gemeinde der Gerechten, Heiligen und Auserwählten. Dieser Ort überquellenden, gesegneten Lebens liegt nach 25,4-6 am verklärten Zion. Es ist die himmlische Segensnahrung, die einst den engelähnlichen Adam im Paradies erquickte. Das Paradies ist Ort der verborgenen Schöpfungsgeheimnisse, an dem Heilige und Gerechte gemeinsam wohnen. Dies wird nach der Erwartung des 1Hen vom Zion aus zu einer Wirklichkeit der neuen Schöpfung.

      Kultische Gemeinschaft mit den Himmlischen, kultische Anthropologie, die Gemeinschaft der Gerechten im Paradies und schließlich die Verklärung zur Engelgestalt vom eschatologischen Zion aus – dieses apokalyptisch ausgeformte Bild der kultisch aufeinander bezogenen Schöpfungshälften setzt voraus, dass die entscheidenden Prozesse der Sünden- und Heilsgeschichte in Korrelation von himmlischer und irdischer Ebene ablaufen, ja, dass den himmlischen Vorgängen eine Priorität zukommt. 1Hen entfaltet deshalb seit der ältesten Traditionsschicht eine Engellehre, die, ohne Gefährdung der Allmacht Gottes, sowohl Sünde als auch Erlösung der Intervention von Engeln zuschreibt.86 Die gefallenen bringen die Sünde in die Welt, indem sie die kultische Schöpfungsordnung durch Vermischung der Gattungen durcheinanderbringen. Mit dieser greuelhaften Vermischung verbunden ist die Mitteilung verbotenen himmlischen Wissens, das die Menschen magisch verwenden.87 Erlösung bedeutet von diesem Ansatz her Restituierung der kultischen Schöpfungsordnung vom Himmel aus. Es geht um Vermittlung kultischen Wissens durch die Engel, Enthüllung der himmlisch-kosmischen Bedeutung des Ritus des Versöhnungstages88 und vor allem auch um die Erwählung des Auserwählten als des Repräsentanten der Gemeinde der Gerechten zu einer Position in und über der himmlischen Engelwelt.

      Nach 10,16ff. ist Michael Befreier von Sünde, Gottlosigkeit und Unreinheit. Er stellt den kultisch gesegneten, ordentlichen Zustand wieder her. Kapp. 10f. bilden eine Kurzfassung des Schemas der Erlösung durch kultisch-kosmische Neuordnung, die Segen erwirkt. 69,14ff. fügen aus dem gleichen Stratum des Noah-Buches hinzu, dass die Erlösung aus der Macht der gefallenen Engel durch Verwendung des geoffenbarten, geheimen Gottesnamens geschehen kann. Kultisches Wissen, apokalyptisch offenbart, kann vollmächtig gegen verderblichen Zauber eingesetzt werden.

      12,2 deutet die Entrückung Henochs so, dass er bereits während seines Lebens in ständiger Verbindung mit den Wächtern und den Heiligen stand. 46,1ff. setzen auf der himmlischen Ebene an: Der ‚andere bei Gott‘ hat ein Antlitz wie das eines Menschen und zugleich wie das eines Engels. Der ‚andere bei Gott‘ ist zugleich menschlich und engelhaft. Bei ihm liegt jedoch keine Vermischung vor wie bei den ‚Biestern‘, die aus der Verbindung der Engel mit den Menschen hervorgegangen sind. Vielmehr ist er kultisch ganz rein. Wie die Sünde durch Verunreinigung per Vermischung zustande kommt, so die Gerechtigkeit durch ein verklärendes Wunder der Neuschöpfung.

      Im Noah-Buch, in dem Henoch ganz als entrückter, himmlischer Offenbarer fungiert, wird von Noah gesagt: „Gott hat deinem Namen unter den Heiligen ewige Dauer verliehen … aus deinem Samen wird eine Quelle von zahllosen Gerechten und Heiligen immerdar hervorgehen.“ (65,12) Noahs Name ist bei den himmlischen Heiligen präsent und seine Nachkommenschaft ist eine Schar von Gerechten und Heiligen. Durch den zum Kreis der Himmlischen gehörigen, reinen Urvater weiß sich die Nachkommenschaft als ebenfalls mit dem himmlischen Ursprung der Reinheit und Heiligkeit verbunden. Die von Noah überlieferte Geburtslegende in 106f. entspricht 46,1ff: Noah wird als Kind mit Attributen engelhafter Reinheit, himmlischen Lichtes und Gotteslobes geboren.89 Henoch offenbart, dass dieses Wunderkind ‚in Ordnung‘ ist und an ihm die göttliche Macht der Neuschöpfung sichtbar wird, den Menschen zu seiner ursprünglichen, engelähnlichen Gestalt zu bringen (106,15f.). Kultische Reinheit, Wissen als Erleuchtung und