Margot Neger

Epistolare Narrationen


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besonders bitter erscheint, wenn jemand gerade dabei war, etwas Unsterbliches (4: immortale aliquid) zu erschaffen. Am Ende des Briefes macht sich Plinius auch über seine eigene Sterblichkeit und literarischen Bemühungen Gedanken (7: occursant animo mea mortalitas, mea scripta) und fordert sich selbst und seinen Adressaten dazu auf, dem Tod möglichst wenig zu überlassen, was er vernichten kann (8), d.h. literarische Werke zu schaffen, die überdauern.

      Es scheint, als würde Plinius mit der unmittelbar folgenden Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 dieses Vorhaben gleich in die Tat umsetzen wollen, denn es handelt sich bei dieser descriptio der tuskischen Villa sowohl um den längsten Brief im Korpus als auch ein Konkurrenz-Projekt zu epischen Ekphraseis wie den Schildbeschreibungen bei Homer oder Vergil.24 Beide Dichter, so konstatiert Plinius im Rahmen einer Rechtfertigung des ungewöhnlichen Umfangs seines Briefes, befolgen trotz der Länge ihrer Darstellung (43: quot versibus) noch immer das Prinzip der brevitas (43): brevis tamen uterque est, quia facit, quod instituit. Bleibt ein Autor bei seinem Gegenstand, könne man ihn nicht der Weitschweifigkeit bezichtigen, sehr wohl aber dann, wenn er etwas Sachfremdes herbeizieht (42). Der die Villa beschreibende Brief gewinnt selbst eine räumliche Dimension, wenn Plinius erläutert non epistula, quae describit, sed villa, quae describitur, magna est (44). Anlass für dieses Schreiben ist, so wird uns suggeriert, eine Äußerung des Adressaten Domitius Apollinaris,25 der von einer Reise nach Etrurien im Sommer abriet, da das Klima dort seiner Meinung nach ungesund sei (1‒3).26 Mit seinem Brief will Plinius nun die Sorge seines Freundes zerstreuen (3): …ut omnem pro me metum ponas, accipe temperiem caeli, regionis situm, villae amoenitatem; quae et tibi auditu et mihi relatu iucunda erunt. Am Ende des Briefes greift Plinius die Einleitung nochmal auf mit den Worten habes causas, cur ego Tuscos meos Tusculanis, Tiburtinis, Praenestinisque praeponam (45). Gerade diese Passage enthält eine auffällige Parallele zu Martials Epigramm 10,30Martial10.30, das ebenfalls eine Villen-Ekphrasis bietet – es handelt sich dort um die VillaPlinius der JüngereEpist. 5.6 von niemand anderem als Plinius’ Adressaten Domitius Apollinaris in Formiae.27 Martials Gedicht beginnt mit einem Lobpreis auf Formiae, das Apollinaris anderen Erholungsorten vorzieht (1‒7):

       O temperatae dulce Formiae litus,

       vos, cum severi fugit oppidum Martis

       et inquietas fessus exuit curas,

       Apollinaris omnibus locis praefert.

       non ille sanctae dulce Tibur uxoris,

       nec Tusculanos Algidosve secessus,

       Praeneste nec sic Antiumque miratur.

      Die Ähnlichkeit zwischen diesen Versen und dem Briefschluss bei Plinius28 dürfte kaum auf Zufall beruhen, sondern, wie unlängst von Mratschek (2018) argumentiert wurde, eine bewusste Reaktion des Plinius auf den Martial-Text für den gemeinsamen Freund Apollinaris darstellen: „Pliny’s celebrated letter…was designed as a response and a contrast piece to Martial’s epigram.“29 Ziel der Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 ist es nicht nur, den Sorgen des Adressaten entgegenzuwirken – dem milden Klima in Formiae (Mart. 10,30,1Martial10.30: temperatae…Formiae) wird die temperies caeli in Etrurien gegenübergestellt (Epist. 5,6,3)30 –, sondern diesen durch die detaillierte Beschreibung gleichsam zu einem virtuellen Spaziergang durch die Villa einzuladen, wie Plinius am Ende seiner Ekphrasis erläutert (41):

       Vitassem iam dudum, ne viderer argutior, nisi proposuissem omnes angulos tecum epistula circumire. neque enim verebar, ne laboriosum esset legenti tibi, quod visenti non fuisset, praesertim cum interquiescere, si liberet, deposita epistula quasi residere saepius posses.

      Die Lektüre des Briefes entspricht also einem Besuch des Anwesens, durch das Plinius seinen Freund als „generischer Wanderer“ oder „Wanderführer“ geleitet.31

      Bevor Plinius mit der Schilderung der Landschaft beginnt, in der seine Villa liegt, beschreibt er das Klima, das im Winter zwar kalt sei (4), im Sommer aber erstaunlich mild (5), weshalb man in dieser Gegend viele alte Leute antreffe (6). Es ist denkbar, dass Plinius auch mit der Formulierung hinc senes multi (6) auf Martials Epigramm anspielt, wo von den senes mulli die Rede ist (10,30,24Martial10.30), die sich im Fischbecken des Apollinaris tummeln und die Plinius in Form einer Assonanz mit seinen senes multi zu evozieren scheint. Während Martial in seine Ekphrasis der Villa Formiana auch Menschen und Tiere integriert – neben den ianitores und vilici, die sich in Abwesenheit des Apollinaris an der Villa erfreuen (28‒29), ist insbesondere der Katalog erlesener Fische in der piscina zu nennen (21‒24) –, werden bei Plinius lediglich die alten Menschen in Etrurien erwähnt, wohingegen uns im Rahmen der eigentlichen Villen-Beschreibung keinerlei Lebewesen mehr begegnen.32 Luxuriöse Elemente wie die piscina maritima des Apollinaris werden bei Martial positiv dargestellt,33 während Plinius jegliches lebendige sowie leblose Inventar seines tuskischen Anwesens ausspart, wohl um dem Vorwurf der luxuria keine Angriffsfläche zu bieten.34 Auch Plinius besitzt eine piscina, in der man sich vermutlich auch Fische vorstellen soll, doch erwähnt der Epistolograph dieses Becken lediglich als Blickfang vor den Fenstern eines Zimmers, der sowohl die Augen als auch Ohren erfreue (5,6,23‒24): piscinam, quae fenestris servit ac subiacet, strepitu visuque iucundam. Anstatt uns von Tieren und Menschen in seiner VillaPlinius der JüngereEpist. 5.6 zu berichten, weist Plinius auf die in der Region lebenden senes multi hin, von denen man alte Geschichten und Erzählungen der Vorfahren hören könne (6: audias fabulas veteres sermonesque maiorum), was dazu führe, dass man sich dort in einem anderen Jahrhundert geboren wähnt (6: putes alio te saeculo natum). Mit seiner Ekphrasis versetzt Plinius den Leser somit nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in ein anderes Zeitalter.

      Abgesehen von ihrer Funktion, den Adressaten gleichsam zu einem virtuellen Spaziergang einzuladen, dient Epist. 5,6 auch zur Charakterisierung des Villenbesitzers35 und liefert ein Porträt, das durch Epist. 9,36Plinius der JüngereEpist. 9.36 ergänzt wird. Dort schildert Plinius seine Tagesroutine auf dem tuskischen Landgut im Sommer, wobei unter allen Aktivitäten insbesondere die literarische Beschäftigung hervorsticht.36 Anders als in Epist. 5,6, wo uns nahezu keine Menschen begegnen, werden in Epist. 9,36 sowohl ein notarius (2), die Ehefrau und Gäste beim Abendessen (4: si cum uxore vel paucis), Schauspieler und Musiker (4: comoedia aut lyristes) sowie gebildete Sklaven und Freigelassene erwähnt, mit denen Plinius verschiedene Gespräche führt (4: cum meis ambulo, quorum in numero sunt eruditi…variis sermonibus vespera extenditur); außerdem tauchen Freunde aus den Nachbarstädten auf (5) sowie Gutspächter (6), die Plinius’ Zeit in Anspruch nehmen wollen. Zusammen konstruieren Epist. 5,6 und 9,36 das Bild einer otium-Villa, in der Plinius die meiste Zeit seinen literarischen Studien widmet; während Epist. 5,6 die Lage und Architektur dieses Mußeortes schildert, wird er in Epist. 9,36 mit Leben und sozialen Interaktionen befüllt. Der Brief 9,36 an Pedanius Fuscus korrespondiert zudem mit Epist. 7,9Plinius der JüngereEpist. 7.9, die ebenfalls an diesen Adressaten gerichtet ist,37 insofern als der Beginn von Epist. 9,36 (1: quaeris, quemadmodum in Tuscis diem aestate disponam) den Anfang von Epist. 7,9 (1: quaeris, quemadmodum in secessu…putem te studere oportere) aufgreift. Plinius empfiehlt seinem Adressaten in Epist. 7,9Plinius der JüngereEpist. 7.9 unter anderem, sich mit kanonischen Autoren zu messen (3: licebit interdum et notissima eligere et certare cum electis), und legt Fuscus damit einen Versuch ans Herz, den auch er selbst mit seiner Ekphrasis in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 wagt (5,6,43: Homerus…Vergilius…Aratus).

      Bei der Beschreibung seiner Villen geht Plinius äußerst selektiv vor, in der Forschung weist man häufig auf die fehlende Präzision hin, was die Schilderung architektonischer Elemente angeht.38 Archäologische Rekonstruktionsversuche, die auf dem Wortlaut der Briefe basieren, stoßen rasch an ihre Grenzen,39 und man ist sich mittlerweile mehr oder weniger einig, dass Plinius keine „Baupläne“ liefern wollte, sondern mit seinen Ekphraseis andere Ziele verfolgte. Anstelle von architektonischen Details präsentiert uns Epist. 5,6 insbesondere die Relationen verschiedener