ausmachen. Verschiedene Orte auf dem Boden der antiken Neapolis erlauben den Abstieg in die Unterwelt, den Bauch der Stadt. Ein Rundgang durch die Katakomben oder die urbanen Fundamente aus griechisch-römischer Zeit zählt zum Spannendsten, was man in der Mezzogiorno-Metropole unternehmen kann. Überdies bietet die Altstadt fantasievoll eingerichtete Ladengeschäfte, verführerisch duftende Restaurants, Bars und Konditoreien, romantische Hinterhöfe mit reichlich Kolorit und immer wieder Einblicke in den italienischen Alltag und in die neapolitanische Volksfrömmigkeit. Diese kreist um Blutwunder (→ Kasten) und um Aberglauben. Das in Läden und an Souvenirständen omnipräsente rote Hörnchen, corno genannt, ist ein Talisman, der vor dem bösen Blick schützt. Seine Wirkung entfaltet sich nicht, wenn man ihn für sich kauft - man muss ihn geschenkt bekommen!
Paradeblick am Abend vom Posillipo-Hügel
Nicht weniger attraktiv als die Altstadt ist die repräsentative Neustadt. Deren Herz ist die ein wenig an den Petersplatz in Rom erinnernde Piazza del Plebiscito mit dem Stadtpalais der Könige von Neapel und dem grandiosen Teatro San Carlo. Von hier führen innerstädtische Boulevards in zahlreiche Richtungen: Die Via Toledo streift das Spanische Viertel und nimmt Kurs auf das Nationalmuseum, während in der Gegenrichtung die von prächtigen Gründerzeitfassaden flankierte Uferpromenade, die Via Nazario Sauro, insbesondere sonn- und feiertags zum Flanieren einlädt. Außerdem verbindet eine Standseilbahn die Via Toledo mit dem Vomero-Hügel, von dem man einen hinreißenden Ausblick über die Stadt genießt. Ein weiterer Besichtigungshöhepunkt ist für Kunstliebhaber die Gemäldesammlung im Schloss Capodimonte. Sonst präsentiert sich Neapel landeinwärts nicht unbedingt von seiner Schokoladenseite: Beiderseits der Autobahn in Richtung Pozzuoli überwiegen gesichtslose Wohnsilos und freudlos vor sich hindümpelnde Industrieanlagen. Ein Lichtblick an der westlichen Peripherie ist das Science Centre im Industrievorort Bagnoli, das ein Stahlwerk an gleicher Stelle ersetzt. Zwischen Stadtzentrum und Bagnoli erstreckt sich der Posillipo mit dem mutmaßlichen Grab des römischen Dichters Vergil. Heute ist der Hügel eine bürgerliche Wohngegend mit stattlichen Villen und Gärten, in denen auf fruchtbarer Vulkanerde Zitrusfrüchte und Blattgemüse kultiviert werden.
Anime pezzentelle - Totenkult in Neapel
Die Untergründe der Millionenstadt bergen manch abgründiges Geheimnis. Eines davon ist der neapolitanische Totenkult, der bis in die 1970er-Jahre v. a. von Frauen praktiziert wurde. Bedeutende Stätten dieser „matrilokalen Kulte“ sind die Altstadtkirche Santa Maria delle Anime del Purgatorio oder auch der Cimitero delle Fontanelle im Stadtteil Sanità. Letzterer ist für den Totenkult von besonderer Bedeutung, weil das heutige Armenviertel just dort liegt, wo sich einst vor den Toren der antiken Neapolis die griechisch-römischen Katakomben befanden.
Die Sanità wurde erst im Verlauf des 16. Jh. besiedelt (der Name Fontanelle verweist auf den ehemaligen Quellenreichtum). Die turmhoch in den Berg getriebenen Tuffsteingrotten des Gottesackers entpuppen sich als titanisches Beinhaus mit regal-hoch gestapelten Knochen und Schädeln. Zur Blütezeit des Totenkults besuchten Frauen das unterirdische Beinhaus, wuschen die Schädel und beteten für ein günstiges Schicksal der Toten im Fegefeuer. Ein Akt mit doppeltem Nutzen, denn umgekehrt glaubten Praktizierende daran, dass sich die Seelen revanchierten: indem sie Kinder- oder Heiratswünsche erfüllen oder zur Krankheitsgenesung beitragen. Zumeist handelt es sich bei den Knochen um anonyme Tote, die während der verschiedenen Pest- und Choleraepidemien 1656 und 1836/37 hier eingelagert wurden. Andere fanden nach Auflösung innerstädtischer Friedhöfe den Weg hierher. Anime pezzentelle, „verlassene Seelen“ werden die namenlosen Toten genannt, die sich die Frauen im Zuge der Kulte aneigneten; sie gaben ihnen eine „Familie“ und enthoben sie somit ihrer Verlorenheit im Fegefeuer. Der Totenkult ist seit dem barocken Zeitalter der Gegenreformation belegt. Ein bischöfliches Dekret setzte der „heidnischen“ Volksfrömmigkeit 1969 ein Ende.
Weiterführende Literatur:
Ulrich van Loyen: Neapels Unterwelt. Über die Möglichkeit einer Stadt, Berlin 2018.
Totenköpfe als Kultobjekt auf dem Fontanelle-Friedhof
Geschichte Neapels
Antike Forumsreste im Untergrund
Die frühesten Siedlungsspuren befinden sich überraschenderweise nicht auf dem Boden der Altstadt, sondern auf dem Monte Ecchia (Pizzofalcone). Heute ist der Hügel hinter dem Castel dell’Ovo vollständig überbaut, weshalb man ihn gerne übersieht. In der Antike ragte er wie ein Sporn ins Meer, während das Kastell auf einer vorgelagerten Insel stand. Der Name der ersten griechischen Siedlung aus dem 7./6. Jh. v. Chr. lautete Parthenope − eine der drei Sirenen vor der italienischen Küste, an denen Odysseus im Verlauf seiner Irrfahrt vorbeisegelte. Der Sage nach sollen sich die sangesfreudigen Schönheiten ins Meer gestürzt haben. Die sterblichen Reste der Parthenope wurden auf der Insel Megaris (Megaride), Sitz der oben erwähnten Seefestung, angeschwemmt. Noch heute gilt die Sirene − neben Vergil und San Gennaro − als Schutzpatronin der Stadt. Die ersten Bewohner waren Griechen aus der nahe gelegenen Siedlung Cumae (→ Link); diese gründeten um 500 v. Chr. östlich der „alten Stadt“ (Palaepolis) eine neue Siedlung und nannten sie Neapolis. Die „Neustadt“ der Griechen lag exakt auf dem Boden der heutigen Altstadt; wer im Komplex San Lorenzo Maggiore die Treppen hinuntersteigt, kann noch die Ruinen aus griechischer und römischer Zeit besichtigen. Wie die meisten anderen griechischen Kolonien in Unteritalien, blieb Neapel auch während der römischen Herrschaft unabhängig. Als man sich aber in den römischen Bürgerkriegen im 1. Jh. v. Chr. auf die falsche Seite schlug, folgte die Strafe auf den Fuß: Nach dem Sieg Roms verleibte Sulla die Stadt am Golf dem wachsenden Imperium ein.
Im Mittelalter und in der Neuzeit verlief die Entwicklung Neapels im Rahmen der politischen Ereignisgeschichte Unteritaliens (→ Geschichte). Bis 1139 war Neapel Hauptstadt eines unabhängigen, mit Byzanz verbündeten Herzogtums. Eine neue Epoche begann danach mit den Normannen, welche die Stadt am Golf in ihr Königreich Sizilien integrierten. War in der normannischen Epoche die Hauptstadt noch Palermo, verschoben sich in der Folge die Gewichte nach Norden: Eine Zäsur bedeutete die Gründung der Universität 1224 durch Kaiser Friedrich II. − die erste nichtkirchliche Hochschule Europas! Nach der öffentlichkeitswirksamen Hinrichtung des blutjungen Staufersprosses Konradin auf der Piazza del Mercato verlegte Karl I. von Anjou seine Residenz von Palermo nach Neapel und läutete ein neues Zeitalter für die Stadt ein. In der angevinischen Epoche wuchs die Einwohnerzahl der Stadt rasant, begleitet durch eine fieberhafte Bautätigkeit: Am Hafen entstand der trutzige Maschio Angioino als neue Residenz (Castel Nuovo); in der Altstadt wuchsen die riesigen Klosterkomplexe Santa Chiara und San Lorenzo Maggiore in die Höhe; auf dem Hügel entstanden die Certosa di San Martino und mit dem benachbarten Castello Sant’Elmo die dritte große Anlage im Dreigestirn der neapolitanischen Festungen. Mit der Machtübernahme der Aragonier zu Beginn der Renaissance entfaltete sich in Neapel eine höfische Pracht, wie sie auch in anderen Residenzen üblich war: Ausdruck der städtebaulichen Veränderungen in jener Zeit ist das neue Triumphportal aus Marmor am Castello Nuovo. Die weitreichendsten Veränderungen im Stadtbild erfolgten jedoch im anschließenden Barockzeitalter. Ganze Straßen- und Gassenzüge wichen neuen Prachtboulevards,