Pete Walker

Das Tao der Gefühle


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die polierten Dornen ein und dasselbe sind,

       dass selbst das reinste Licht

       ohne das Gewand der Dunkelheit

      ohne Wirkung wäre.

      — Mary Oliver

       Für die meisten Menschen ist Vergebung ein Prozess. Wenn man tief verwundet wurde, kann der Prozess der Vergebung Jahre dauern. Er wird viele Phasen durchlaufen – Trauer, Wut, Kummer, Angst und Verwirrung …

      — Jack Kornfield, Frag den Buddha – und geh den Weg des Herzens

      Zurzeit höre ich von vielen gefährlichen und unzutreffenden »Anleitungen« zum Umgang mit Vergebung – insbesondere bezüglich der Vergebung gegenüber Eltern, die missbräuchlich oder vernachlässigend waren. »Du musst dich nur dafür entscheiden zu vergeben« ist ein üblicher Refrain in vielen Genesungs- und New-Age-Kreisen.

      Dieser grob vereinfachende Ratschlag zur Vergebung scheint so zweifelsfrei, dass viele Überlebende ihn bedingungslos akzeptieren. Viele entscheiden sich dafür, fühlen sich aber insgeheim furchtbar, weil sie nie wirklich das Gefühl von Vergebung hatten. Andere sind wirklich davon überzeugt, dass sie verzeihen, aber sie fühlen nie die emotionale Qualität ihrer Vergebung.

      Das blinde Befolgen des Ratschlags, sich einfach für Vergebung zu entscheiden, schafft die Voraussetzung für eine falsche Vergebung. Sie ist in psychischer Hinsicht wie eine dünne Eisschicht, die unser darunterliegendes Reservoir an wütenden und verletzten Gefühlen aus der Kindheit verdeckt. Leider kann diese zerbrechliche mentale Konstruktion eine emotional tiefe und wirklich intime Beziehung zu unseren Eltern nicht fördern.

      Wirkliche Vergebung ist aus der westlichen Kultur so gut wie verschwunden. An ihre Stelle ist ein unauthentisches Ideal der Vergebung getreten, das uns unseren Schmerz vergessen lässt.

      Bei denjenigen von uns, die in der Kindheit gravierend verletzt wurden, entstehen selten verzeihende Gefühle gegenüber ihren Eltern, bevor sie nicht durch Trauern ihr Schmerzreservoir geleert haben. Da wirkliche Vergebung, wie wir sehen werden, mit der Vergebung unserer selbst beginnt, hoffe ich, dass dieses Buch Ihnen helfen wird zu verstehen, warum es unfair ist, sich selbst die Schuld dafür zu geben, dass man sich nicht »einfach nur für Vergebung entscheidet«.

      Der Tod ist nicht die Tragödie, sondern die Millionen Male, die wir unsere Herzen betäuben und verschließen, weil die Erfahrung nicht das widerspiegelt, was wir bereit sind zu akzeptieren.

      — Stephen Levine, Who Dies

      Die Zeit mag alle Wunden heilen oder auch nicht. Es hängt davon ab, wie wir die Zeit nutzen. Wenn wir unsere Trauer verleugnen, vor ihr weglaufen oder hoffen, dass sie von selbst verschwindet, werden wir unglücklich sein. Aber wenn wir uns ihr stellen und unsere Trauer auf gesunde Weise zum Ausdruck bringen, werden wir durch die Trauer selbst verwandelt.

      — Hazelden Meditations

      Sich zu entscheiden, einfach zu vergeben, ist oft der unbewusste Versuch, unsere Trauer und Wut über die Kindheit in der Vergangenheit begraben zu lassen. Paradoxerweise begräbt diese Entscheidung auch unsere Gefühle echter Vergebung sowie unsere Fähigkeit, vollständig zu fühlen.

      Wenn wir unsere gesamte emotionale Natur zutagefördern, müssen wir uns zunächst durch Schichten alter emotionaler Schmerzen wühlen, die sie bedecken. Bei dieser Ausgrabung werden in der Regel die Leichname vieler Kindheitsverluste ans Licht kommen – der Verlust wesentlicher Aspekte unserer selbst –, die wir damals nicht betrauern durften. Wenn wir jetzt trauern, entdecken wir unsere phönixartige Fähigkeit, aus diesen Verlusten vollständig wiedergeboren zu werden.

      Trauern ist in unserer Kultur leider weitgehend verboten. Die Psychotherapeuten Jordan und Margaret Paul erläutern, warum wir uns dagegen wehren zu trauern und uns mit unseren schmerzhaften Gefühlen zu »beschmutzen«:

      Unsere Schwierigkeiten im konstruktiven Umgang mit Schmerzen beginnen bereits in der Kindheit. Die Bemühungen der Eltern, ihre Kinder vor jeder harten Realität zu schützen – Konflikte in der Familie, der Tod eines Haustiers – berauben sie der Übung im Umgang mit Schmerzen. Wenn Eltern keinen offenen Ausdruck von Schmerz zulassen, egal ob es sich um einen kleinen (wie eine Enttäuschung oder einen Misserfolg) oder großen (wie den Verlust eines Großelternteils) handelt, lernen die Kinder nie, dass sie Schmerz erfahren, tief betroffen sein und trotzdem überleben können. Auf diese Weise lernen wir, wie wir sein müssen oder scheinbar sein sollen, nämlich unberührt.

      Trauern ist in unserer Kultur so tabuisiert, dass die meisten von uns nicht einmal bei den Beerdigungen derer weinen können, die sie am meisten lieben. Die wenigen, die es wagen, aktiv zu trauern, werden ermutigt, schnell »darüber hinwegzukommen«, nicht mehr an ihre Lieben zu denken (zu fühlen!), Fotos von den Verstorbenen wegzulegen und vor allem, sich zu beschäftigen. In Loss And Change, der Studie von Peter Marris über den angelsächsischen Zugang zur Trauer, geht er näher darauf ein:

      Sich der Trauer hinzugeben wird als krankhaft, ungesund, demoralisierend … stigmatisiert. Die Ablenkung eines Trauernden von seiner Trauer wird als richtiges Verhalten eines Freundes oder Wohlmeinenden angesehen … Trauer wird als Schwäche, Selbstgefälligkeit, verwerfliche schlechte Angewohnheit behandelt, statt als eine psychologische Notwendigkeit.

      Wenn wir nicht um den Tod trauern dürfen, wie viel mehr zögern wir dann, andere bedeutende Verluste zu betrauern? Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Verlust eines Arbeitsplatzes oder das Ende einer Beziehung zu betrauern. Bis vor Kurzem trauerte fast niemand um einen der größten Verluste – den Verlust des Wohlwollens der Eltern in der Kindheit. Kein Wunder, dass so viele von uns eine ungeheure Last an ungelöster Trauer mit sich herumtragen.

      Wie unnötig wir darunter leiden, dass uns die einzigartige heilende Erleichterung vorenthalten wird, die nur durch Trauer möglich ist! Trauer befreit uns wie nichts anderes aus den Fängen der Anspannung und Ablenkung. Wir können uns von ungesunden Bindungen an alte Familienregeln befreien, die es uns nicht erlauben, den Schmerz unserer Kindheit anzuerkennen. Wir müssen unsere Vitalität nicht mehr verschwenden, indem wir unsere Erinnerungen einsperren und aufpassen, dass uns unser Schmerz nicht entwischt.

      Viele von uns sind wie Tiere, die so lange eingepfercht waren, dass sie nicht gemerkt haben, dass das Erwachsenenalter uns das Tor zu einem weiten Feld der Freiheit und Möglichkeiten geöffnet hat. Trauern befreit uns aus der Gefangenschaft in einem winzigen Teil unseres Selbst und gibt uns die Freiheit, zu den selbstbewussten, lebensbejahenden Erwachsenen heranzuwachsen, auf die man uns hätte vorbereiten sollen. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihre angeborene Fähigkeit freisetzt, Ihren Trauerprozess mit Stolz anzunehmen, und dass Sie anschließend mit den Gaben der Trauer belohnt werden, die in Kapitel 4 näher erläutert werden.

       Warum möchte mein Papa, dass ich ihm verzeihe, obwohl er mich nicht verletzt hat?

      — Maria, eine elfjährige Klientin

      Echte Vergebung findet sich am häufigsten im ruhigen Zentrum des Orkans der Anschuldigungen. Dieses Paradoxon ist Teil einer größeren Ironie, die die menschliche Fähigkeit, sich »gut« zu fühlen, untrennbar mit der Notwendigkeit verbindet, sich manchmal »schlecht« zu fühlen.

      Wer nie traurig ist, weiß nicht, was Freude ist. Wer nie wütend ist, empfindet selten echte Liebe. Wer ständig vor seiner Angst davonläuft, entdeckt nie seinen Mut. Und wer sich weigert, Anschuldigungen zu erheben, wird niemals wirklich Vergebung empfinden. Ken Wilber, ein moderner Weiser der transpersonalen Psychologie, stellt fest:

      Wenn wir versuchen, die Gegensätze zu trennen und an denen festzuhalten, die wir positiv beurteilen, wie Vergnügen ohne Schmerz,