Joachim Bitterlich

Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa


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allem Ernst, er könne – von ihm aus – so lange Staatssekretär bleiben, wie er dies wünsche! Er war in seiner unnachahmlichen, bedächtigen, abwägenden Art der respektierteste Vertreter, den das Auswärtige Amt über viele Jahre hatte.

      Genscher war selbst ein harter Arbeiter, der sich nichts schenkte, aber auch uns kleiner Mannschaft nichts. Er war gleichzeitig vor allem ein begnadeter Netzwerker, ein politisches Schlitzohr, untypisch deutsch in gewisser Weise und gehörte schon damals zu den anerkannten politischen Strippenziehern in Europa, was Helmut Kohl noch werden sollte.

      Genscher hatte politisches Feingefühl, er roch Probleme sehr früh, früher als andere. Bei ihm funktionierte ein Frühwarnsystem glänzend und viel besser als bei vielen anderen. Ich lernte damals seine wichtigsten „Informanten“ und Vertrauenspersonen aus den Ländern und der FDP kennen, einige wie den Freiherrn von Gumppenberg im niederbayerischen Bayerbach besonders schätzen. Genscher war Parteivorsitzender und Minister, die FDP war nach der Wende 1982 in einer schwierigen, zuweilen prekären Lage. Er hat die Übernehme von Verantwortung nie gescheut. Und es kam sein geschicktes Zusammenspiel mit dem Kanzler hinzu, der mehr und mehr in eine europäische Rolle hineinwuchs. Genscher hat immer wieder die Nischen, die er nehmen konnte, erkannt. Er hat es auch regelmäßig geschafft, damit die Politik der Regierung in eine Richtung zu lenken, die ihm vorschwebte. Manchmal ging das bis zur Grenze, wo die CDU/CSU oder Helmut Kohl mitspielen konnten und wollten.

      Schien es ihm selbst zu riskant, so schickte er einen „Minenhund“ voran, oft war dies der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Jürgen Möllemann, oder auch ein Dritter. Genscher nahm es aber in den Jahren auch dann hin, vom Koalitionspartner oder vom Bundeskanzler selbst direkt oder indirekt „zurückgepfiffen“ zu werden.

      Ihm war es wichtig, er hatte seine politische „Duftmarke“ hinterlassen. Er setzte dabei – auch um seine Partei im Gespräch zu halten – auf eine intensive und vor allem effiziente Pressearbeit. Er lancierte oft morgens früh durch ein Interview Nachrichten und setzte darauf, dass diese im Laufe des Tages, gegebenenfalls in Variationen, immer wieder wiederholt wurden.

      Einer der politischen Weggefährten jener Jahre, der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm, stellte in einem Nachruf zu Recht fest „Hans-Dietrich Genscher war immerzu online, schon lange bevor es das Internet gab ... Vielleicht war er deshalb oft seiner Zeit voraus, er hatte einen Riecher für das, was kommt“. Hans-Dietrich Genscher war halt ein Politprofi in jeder Hinsicht.

      Ich hatte bei ihm enorm dazu gelernt, vor allem politische Professionalität. Was mich mit ihm auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik verbunden hat– und dafür hat er meinen uneingeschränkten Respekt, sind seine Verlässlichkeit, seine knallharte Professionalität sowie das Arbeiten unter höchstem Druck.

      Nach seinem Rücktritt im Jahre 1992 begegneten wir uns mehr oder minder regelmäßig in Bonn, später in Berlin bei Anlässen verschiedenster Art. Und immer wieder tauschten wir uns in einer sehr offenen, direkten Weise über aktuelle Entwicklungen in der Europa- und Außenpolitik aus. Er stellte mir oft konkrete Fragen, auch zum Auswärtigen Amt, und ich hörte seinen kritischen Anmerkungen gerne zu. Letztere galten in den letzten Jahren vor allem der Entwicklung der europäischen Integration wie der Sorge um das Verhältnis zu Russland, wo Europa in gewisser Weise den „Kompass“ verloren habe! Wir waren nicht immer der gleichen politischen Auffassung, aber das störte weder ihn noch mich. Und er hatte über die Jahre nichts von seinem politischen Gespür verloren!

      Bei unserem letzten Gespräch in Berlin im Jahre 2015 wirkte er gesundheitlich geschwächt, aber durchaus engagiert und alert. Die Nachricht von seinem Tode am 31. März 2016 im Alter von 89 Jahren hat mich getroffen. Auch wenn ich „nur“ zwei Jahre mit ihm direkt gearbeitet habe und ihn und seine Politik über zehn Jahre als Angehöriger des Auswärtigen Dienstes von den Vertretungen in Algier und Brüssel, dann aus dem Kanzleramt mitverfolgte, so fühlte ich mich mit ihm doch besonders verbunden, er war einer meiner „Mentoren“, mein erster „Lehrmeister“, der mich in gewisser Weise begonnen hat zu formen, herauszufordern und der mich gefördert hat.

      Bundespräsident Joachim Gauck hat Hans-Dietrich Genscher im Rahmen der Würdigung seines politischen Wirkens beim Staatsakt am 17. April 2016 zu Recht als einen „deutschen Patrioten und überzeugten Europäer“ bezeichnet. Er stellte zudem fest, dass „die Verbindung aus Prinzipientreue und Pragmatismus, langfristiger Strategie und Erkennen des kurzfristig Gebotenen“ das Wirken Genschers gekennzeichnet habe. Genscher war in all den Jahren auch bei den Verbündeten nicht unumstritten, dies galt vor allem für sein unerschütterliches Eintreten für den Ausbau der KSZE, die eines Tages die militärischen Bündnisse in Europa ablösen könnte. Darauf wird noch an anderer Stelle einzugehen sein.

      Genschers Persönlichkeit, seine Stärken, Ecken und Kanten wurden mir nach seinem Tode noch einmal vor Augen geführt, als mich die Herausgeber der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ des Jahres 1986 dazu einluden, die wesentlichen politischen Elemente dieser Zeit vorzustellen.

      Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem ich bis dahin in meinen Brüsseler Jahren bei den verschiedenen Tagungen des Europäischen Rates eher flüchtig begegnet war, hat mir dann im Frühsommer 1987 völlig unerwartet die Chance eröffnet, im Bundeskanzleramt an seiner Seite bzw. in der von Horst Teltschik geleiteten Abteilung die Europapolitik zu betreuen.

      Diese „Einladung“ zum Wechsel in das Bundeskanzleramt, die mir der damalige Staatsekretär Jürgen Sudhoff eröffnete, brachte mich in eine „Zwickmühle“. Sie kam unerwartet und war zudem ungewöhnlich, als ich doch damals Mitarbeiter im direkt dem Bundesminister des Auswärtigen unterstehenden Leitungsstab des Auswärtigen Amtes war.

      Wie sollte er die „Abwerbung“ eines seiner Mitarbeiter durch den Koalitionspartner bewerten? Ich war ein viel zu kleines Licht, um daraus eine Debatte oder gar einen Streit in der Koalition zu entfachen, und doch, Genscher schien nachzudenken, er zögerte, taktierte.

      Ich hatte ihm offen gesagt, ich sei 1985 seinetwegen nach Bonn zurückgekehrt und sähe meine Zukunft im Auswärtigen Amt. Ich war nach Bonn in das Ministerbüro gekommen, um für und mit Hans-Dietrich Genscher zu arbeiten. Ihm galt meine uneingeschränkte Loyalität. Er wusste, dass ich nicht Mitglied der FDP war, trotzdem schickte er mich, wenn es sein musste, selbstverständlich zu internen FDP-Sitzungen. Ob in Sachen Wirtschaft, Landwirtschaft oder Europa, so war ich zuweilen als „Beobachter“ von Hans-Dietrich Genscher dabei.

      Und es war letztlich er, der mich nach einigem Nachdenken ermutigte, das Angebot aus dem Kanzleramt anzunehmen – „dies sei gut für ihn und gut für das Auswärtige Amt. Ein Mitarbeiter seines Vertrauens in der unmittelbaren Nähe des Bundeskanzlers sei für ihn wichtig. Zudem könne „der Bundeskanzler mir eine Perspektive bieten, die für ihn im Amt schwieriger sei“ waren seine Worte.

      Und so begannen im Mai 1987 über elf höchst intensive, spannende Jahre, die wie keine andere Zeit mein Berufsleben und die Zukunft prägen sollten – Jahre, die mich einem Politiker näher bringen sollten, der für mich bis dahin weitgehend fremd, dessen Haltung und Vorgehensweise im Grunde „terra incognita“ waren.

      Ich war Helmut Kohl seit Herbst 1982 einige Male bei Europäischen Räten begegnet, im Gegensatz zu Hans-Dietrich Genscher hatte er bei mir kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich erinnerte mich an einen Bundeskanzler, der eher aus der Defensive operierte, der zuhörte, abwartete – im Rückblick würde ich sagen, der, sich ein Bild verschaffen, der die Akteure zunächst einmal besser kennen lernen wollte.

      Ich brauchte Zeit, um sein Vertrauen zu gewinnen – und zugleich musste ich ihn kennen lernen, um mit ihm, seinem Stil, seiner Arbeitsweise zurecht zu kommen. Er war zunächst misstrauisch, abwartend, aber doch einladend und zugleich testend, zudem fordernd. Die „Probezeit“ dauerte rund ein halbes Jahr, bis erste echte Herausforderungen auf mich zukamen.

      Daraus wurden über elf faszinierende