Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl
Meine einzige Begegnung mit Helmut Schmidt in der damaligen Zeit prägte für Jahre mein kritisches Bild dieses Bundeskanzlers. Als ich Jahre zuvor erstmals wählen durfte, hatte ich Willy Brandt gewählt und auch beim zweiten Mal „Ja“ zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt gesagt.
Am späten Abend sollte ich ihn in Brüssel zum traditionellen Nachtgespräch des Bundeskanzlers mit den deutschsprachigen Journalisten am Rande einer jeden Tagung des Europäischen Rats abholen. Ich bekam eine, wie mir Kollegen bedeuteten typisch mürrische, ja abschätzige Bemerkung seinerseits, die unterstreichen sollte, er hatte wohl wenig Lust, die gut 100 Brüsseler Korrespondenten noch zu treffen, sie könnten warten.
Ich habe später viele seiner Bücher und Kommentare in der „ZEIT“ mit großem Interesse verschlungen. Aus meiner ursprünglichen Distanz wurde zunehmend Respekt gegenüber Helmut Schmidt, Verständnis für seinen Lebensweg, Respekt für seine grundsätzliche Einstellung, seine klare Haltung in Sachen Verhältnis zu Frankreich und den USA, zu NATO und zur europäische Integration, Hochachtung für seine Haltung gegenüber dem Terrorismus der RAF. Helmut Schmidt stand loyal zu seiner Partei, auch wenn sie ihm in entscheidenden Fragen wie dem NATO-Doppelbeschluss letztlich die Gefolgschaft verweigert und ihn im Stich gelassen hatte – gerade dieses Scheitern hatte meine Haltung zu Anfang geprägt.
Der damalige französische Präsident François Mitterrand hatte 1982 seine persönliche Distanz zu dem Giscard-Freund Helmut Schmidt beiseitegelegt und ihm angeboten, vor dem Bundestag zugunsten der Verwirklichung des NATO-Doppelbeschlusses zu sprechen. Er hielt dieses Angebot auch gegenüber Helmut Kohl aufrecht. Seine Rede am 20. Januar 1983, zugleich zum 20. Jahrestag des Elysée-Vertrages, wurde zu einem Markstein bei der Umsetzung des Doppelbeschlusses.
Bemerkenswert, auch und gerade in der Rückschau, dass Helmut Schmidt sich seine „Sporen“ bei einem Katastrophenfall in seinem Bundesland Hamburg, der großen Sturmflut, verdient hatte – und er danach Verteidigungs- und Finanzminister vor der Übernahme der Kanzlerschaft geworden war. Er betreute zwei große Schlüsselressorts in einer Regierung, deren Bewältigung zugleich dem „großen Befähigungsnachweis“ gleichkamen.
Begegnungen in jüngerer Zeit haben dazu geführt, mich mehr mit Helmut Schmidt und seiner Persönlichkeit auseinander zu setzen. Bezeichnend hierfür war ein intensives Gespräch mit ihm im Jahre 2014 am späten Abend in der Residenz des deutschen Botschafters bei seinem letzten Besuch in Paris, in erster Linie über aktuelle Fragen der Europapolitik. Er wies dabei meinen Gedanken, angesichts der kritischen Entwicklung in Europa wäre es eine gute Sache, wenn die beiden Alt-Kanzler gemeinsam das Wort ergriffen, nicht zurück.
Zu meiner Überraschung bekundete er dabei durchaus Respekt vor der politischen Leistung Helmut Kohls und bedeutete mir fast beiläufig, er habe vor einiger Zeit seine Auffassung über den Menschen Helmut Kohl revidieren müssen: Helmut Kohl habe ihm – seiner Erinnerung war es nach dem Tod seiner Frau – in Hamburg überraschend einen sehr menschlichen, einfühlsamen Besuch gemacht. Er habe den Eindruck gehabt, Kohl wollte sein Verhältnis zu ihm bereinigen. An jenem Abend spürte ich erstmals, wie sehr auch jener Mann im kleinen Kreis nicht nur Zustimmung suchte, sondern auch für die Diskussion durchaus offen war. Ich spürte nachdrücklich das, was Michael Stürmer in seinem Nachruf auf Helmut Schmidt „Klugheit durch Erfahrung“ nennen sollte.
Helmut Kohl nahm erstmals im Dezember 1982 in Kopenhagen an einer Tagung des Europäischen Rats teil. Einarbeitungs- oder Schonzeit wurden ihm nicht gewährt, im anschließenden ersten Halbjahr 1983 stand die EG unter deutschem Vorsitz: Er musste bereits im Frühjahr 1983 in Brüssel und im Juni 1983 bei dem „eigentlichen“ Europäischen Rat unter deutscher Präsidentschaft den Vorsitz führen.
Er wollte und konnte aus seinen europäischen Überzeugungen heraus einfach die europäische innere Krise der Jahre 1981/82 nicht akzeptieren. Für ihn war es einfach inakzeptabel und unbegreiflich, die europäische Integration mit „Eurosklerose“, einer schlimmen Krankheit, dem Stichwort der damaligen Zeit, zu umschreiben!
Dies waren die einleitenden Worte bei der ersten Pressekonferenz Helmut Kohls, die ich miterlebte – ich konnte damals nicht ahnen, dass ich gut ein Jahrzehnt später zum Abschluss der Tagung des Europäischen Rats wie auch bei anderen europäischen und internationalen Begegnungen regelmäßig neben ihm auf dem Podium sitzen sollte.
Neben dem auf europäischem Parkett souveränen Genscher stand er als der „Neue“ naturgemäß unter penibler Beobachtung seiner Kollegen – zu Anfang mit etwas weniger esprit de corps oder Rücksicht. Und doch, auch er fand bald den Respekt seiner Kollegen – abgesehen von einigen auch in der Politik typischen Sonderverhältnissen wie zum Beispiel mit Margret Thatcher. Spätestens im Frühjahr 1988 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt zehn Jahre später wurde Helmut Kohl zur führenden, ja beherrschenden Persönlichkeit des Europäischen Rats, zusammen mit Jacques Delors der Europäischen Union insgesamt.
4. Politische Lehrjahre unter Hans-Dietrich Genscher, 1985–87
In der Schlussphase der Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal kündigte sich – wieder unerwartet – der nächste Schritt Richtung Politik an. Hans-Dietrich Genscher fragte mich, ob ich im nächsten Jahre in sein Büro nach Bonn wechseln wolle, dies sei jedenfalls sein Wunsch.
Es war klar, dass die Antwort nur ein „ja“ sein konnte. Es sollten meine Lehrjahre unter dem langjährigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher folgen, dem professionellsten aller Politiker, die ich in all den Jahren kennenlernte, und seinem Kabinettchef Michael Jansen. Hinzu kam die enge Arbeit mit den Staatssekretären Hans-Werner Lautenschlager und Jürgen Ruhfus, auch er wurde wie Hans-Werner Lautenschlager in ganz unterschiedlicher Weise zum Vorbild und zu einem „älteren Freund“.
Und die europäische Politik blieb im „Ministerbüro“ mein Betätigungsfeld, damit auch der permanente Kontakt zur Brüsseler Szene und zu den Ministern bzw. ihren Mitarbeitern, mit denen Hans-Dietrich Genscher in erster Linie den Kontakt hielt. Daneben lernte ich einen Bereich „politisch“ kennen, den ich zuvor in Algier als junger Diplomat betreut hatte: die Auswärtige Kulturpolitik und eine ihrer wichtigsten „Waffen“, das Goethe-Institut. Ich musste lernen, dass der politische Stellenwert der „Auswärtigen Kulturpolitik“ für Genscher weitaus höher war, als die Mehrheit der Diplomaten dies verstand.
Doch zurück zu Hans-Dietrich Genscher, der trotz wiederkehrender gesundheitlicher Probleme ein Arbeitspensum vorlegte, das selbst für den jungen Mitarbeiter oft im Grunde fast zu hoch war, und auch sie zu gleicher Höchstleistung antrieb. Man musste sich oft fragen, wie er die Dreifachbelastung durchhalten konnte: Führer einer von der 5%-Klausel bedrohten Partei, Vizekanzler einer Koalitionsregierung, der ein gutes Drittel seiner eigenen Partei kritisch gegenüberstand, und zugleich Außenminister Deutschlands – eines Landes, von dem die Europäer und die Welt eine mehr und mehr aktive Rolle erwarteten.
Hinzu kam, es waren Genscher und Graf Lambsdorff, die 1982 nach der sozialliberalen Ära die Wende hin zu einer Koalition mit der CDU/CSU und Helmut Kohl vollzogen hatten, mit allen Risiken für die FDP. Genscher führte die FDP 1990 zu einem Traumergebnis von 11% bei den Wahlen zum Bundestag, Guido Westerwelle sollte es 2009 mit 14,6% noch übertreffen. Allerdings war dies keine Überlebensgarantie, wie es sich 2013 erweisen sollte.
Genscher schien oft getrieben, besser noch als einer, der permanent nach Ideen suchte, die einerseits hilfreich für Deutschland, aber zugleich für seine Partei und ihn waren. Naturgemäß war diese Strategie nicht frei von – begrenzten – Konflikten mit dem Koalitionspartner und dem Bundeskanzler. Europa- und Außenpolitik stand daher naturgemäß stark unter kurzfristigen Effekten, aber Genscher stand auch zugleich für eine längerfristige Strategie, in erster Linie in Bezug auf die europäische Politik, der er versuchte, in Deutschland mit seinem Markenzeichen, das der FDP, zu versehen.
Gegenüber dem „Hause“ verließ sich Genscher auf den Leiter seines Büros, Michael Jansen, und die Staatssekretäre als ruhende Pole – ich denke an Jürgen Sudhoff, dem das