andere Welt – ungemein lehrreiche Monate, von denen ich bis in die jüngste Zeit profitieren sollte.
Es war zugleich die Neugierde für diesen geopolitisch und nachbarschaftlich für Europa so wichtigen Raum, die vielleicht mitursächlich für die erste längerfristige Verwendung wurde: Algier, die erste klassische, nicht minder lehrreiche Auslandsverwendung mit dem schwierigen Lernposten Algier als Leiter des Rechts- und Konsular- sowie des Kulturreferats – eine überraschende Postenkombination, die mich zunächst einmal nachdenklich machen musste.
2. Lehrjahre in Algier: 1978–81
August 1978, Ankunft in Algier, eine Hauptstadt im Leerlauf, ja fast in Agonie, Zeit des Ramadan, nicht nur! Ein Land in der Erwartung des Todes seines langjährigen Präsidenten Houari Boumédiène – und parallel wurde anscheinend ohne Ende zwischen den Spitzen der Armee und der Einheitspartei FLN über die Nachfolge verhandelt …
Dass das junge Land 15 Jahre nach Erlangung seiner Unabhängigkeit und einem erbitterten Krieg mit seinem Mutterland Frankreich noch nicht im Reinen sein konnte, konnte nicht erstaunen – dass dies heute, über 50 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch nicht der Fall ist, muss indes verwundern.
Dass das Land – oder besser gesagt, die Führer von Armee und der legendären Staatspartei FLN – sich 1978 schwertaten, einen Nachfolger für den langjährigen Präsidenten zu küren, schien noch verständlich. Aber dass das Land 35 Jahre später den kranken Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika – der schon zu meiner Zeit zur Führung gehörte – sanft überreden musste, mangels Einigung über einen Nachfolger wie auch wohl, so bedeuteten mir Insider, mangels Verständigung über die Sicherheitskautelen für seine Familie weiter im Amt zu bleiben, musste zu ernsten Bedenken führen!
Auch nach dem Tode Bouteflikas und der Wahl eines neuen Präsidenten bleibt das Land in einer labilen Lage. Es gelingt der Führung nicht, die Demonstrationen und Rufe nach mehr Demokratie und Gerechtigkeit zu befriedigen. Die Armee als wesentliches herrschendes Führungselement scheut sich vor überfälligen Reformen und Schritten zu mehr Demokratie. Dies in einem Land, das von den Naturschätzen zu den reichsten Ländern der Welt gehört, das aber systembedingt nur schwer vom Fleck kommt.
Liegt dies an dem Trauma der durch den Kampf gegen den extremen Islamismus verlorenen 90er Jahre oder eben an jenem „historischen“ Kompromiss zwischen Armee und politischer Führung, verkörpert durch die FLN, die sich in Wahrheit überlebt haben scheint, und auf der anderen Seite „gemäßigten“ Islamisten, die ihren Einfluss mehr und mehr ausbreiten? Kritiker werfen dem „Regime“ vor, zum Schaden des Landes die Gesellschaft – vor allem mit der schleichenden Übernahme des Bildungsbereichs – letztlich den Islamisten zu überlassen. Oder spielt nicht doch noch in den Hinterköpfen vieler in Algerien das nach wie vor durch latente Spannungen und Missverständnisse beherrschte Verhältnis zum kolonialen Mutterland Frankreich eine besondere Rolle? Die Ereignisse des Jahres 2019 und die spürbare Angst vor einem demokratischen Wandel haben dies nachdrücklich unterstrichen.
Algier wurde ab August 1978 für mich nicht nur zum idealen Ort gründlicher, unkonventioneller Ausbildung in allen wesentlichen Bereichen der Diplomatie, sondern auch zum Ort der ersten nahen Begegnung mit der deutschen Politik, mit meinem Dienstherrn Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Ich hatte zwei Botschaften im Schnupperkurs erlebt – Kairo und Madrid. Mein Vorgänger war schon nach Bonn zurückversetzt, mein Vertreter – der Pressereferent – stellte mir kurz die Mannschaft vor, verwies auf die wesentlichen Arbeitsbereiche und wünschte mir viel Glück bei der Einarbeitung. Auf „meinen“ ersten Botschafter hatte ich mich etwas vorbereitet. Es war Michael Jovy, bekannt durch den Widerstand gegen das NS-Regime, ein unkonventioneller, recht lockerer Botschafter, der mir alle Freiheit lassen sollte, in Notfällen sei er da.
Konsularalltag
In Algier lernte ich die kleinen und großen täglichen Probleme des Konsularalltags in einem gewiss nicht leichten Umfeld kennen. Da standen täglich bis zu 200 Algerier vor der Tür des Konsulates bei Sonne oder Regen, die um ein Visum nach Deutschland anstanden.
Die Technik war damals lange nicht so weit wie heute und wir Konsuln aus dem heutigen Schengen-Bereich überlegten uns offen, wie wir uns gegenseitig helfen könnten – z.B. um zu vermeiden, dass in einem Land „unerwünschte“ Gäste über den Nachbarn dann doch bei uns oder in Frankreich bzw. Belgien und den Niederlanden einreisen würden. Wir tauschten uns „auf der Arbeitsebene“ aus, führten informell „Warnlisten“ über Problemfälle. Ich händigte den Nachbarn die deutschen Fahndungsbücher der Vorwoche aus. Nicht alle in Bonn mochten diese unkonventionelle Methode der Zusammenarbeit. Ich wurde gerügt, hatte ich doch zwei befreundeten Ländern, die zugleich NATO- und EG-Partner waren, die vorherigen Ausgaben dieses dicken Werkes überlassen, das für die Erteilung von Sichtvermerken unsere Rückversicherung bildete und leider einen besonderen Stempel trug „VS-Nur für den Dienstgebrauch“!
Algerien war zudem Anwalt aller Befreiungsbewegungen, in erster Linie auf dem afrikanischen Kontinent. Und dazu gehörte auch die „Frente Polisario“, politische Bewegung zur „Befreiung der West-Sahara“ von Marokko, offiziell R.A.S.D. genannt – eine Bewegung, die ohne nachhaltige algerische Unterstützung, die in erster Linie aus der Gegnerschaft zum Nachbarn Marokko gegründet war, nie eine internationale Bedeutung erlangt hätte. Die Führung der „Frente Polisario“ war mit algerischen Diplomatenpässen unter Phantasie-Namen, zum Teil ohne Geburtsdatum ausgestattet – nun gut, wir wie auch andere stellten bald fest, wer aus der Spitze konkret dahinter steckte, und wir konnten Bonn wie die anderen Hauptstädte konkret und diskret fragen, ob die Einreise des einen oder anderen erwünscht war.
Hilfe für Deutsche
In der Konsulararbeit ging es aber nicht nur um die Ausstellung von Sichtvermerken, den Visa, zur Einreise nach Deutschland, sondern auch oft genug um das Schicksal von Familien, von deutschen Frauen und Kindern in Not bis schließlich hin zu Deutschen aus der DDR. Es gab damals Tausende von DDR-Deutschen, die in Algerien arbeiteten, von denen eine nicht unerhebliche Zahl in den Westen wollte und die nach Algerien gegangen waren, da sie sich von dort eine leichtere Ausreise erhofft hatten.
„Fluchthilfe“ oder Hilfe für Deutsche in der Not, wie damit in der Praxis umgehen, wie helfen – und inwieweit ohnmächtig zuschauen? „Nothilfe“, zuweilen mit Risiko, oder wegschauend resignieren – und sich dabei möglichst konform mit den Regeln der Diplomatie zu verhalten? Wir haben damals getan, was wir konnten, und gingen zuweilen an die Grenzen dessen, was diplomatisch noch vertretbar schien. Auf Seiten der Algerier, vor allem bei der Gründergeneration, bestand eher eine Tendenz, gegenüber uns doch im Zweifel ein Auge zuzudrücken. Hans Jürgen Wischnewski, dem legendären Ben Wisch sei gedankt!
Bei meinem Abschiedsbesuch beim Leiter der Konsularabteilung des algerischen Außenministeriums bedeutete mir dieser beim Spaziergang durch den Park, man hätte angesichts unserer Aktivitäten öfters unter Druck der DDR gestanden, der Botschaft wie auch mir persönlich habe man aber nichts nachweisen können – und ich sei ja als Freund des Landes erachtet worden.
Eine Beurteilung, die ich wohl den regelmäßigen Kontakten zu führenden Militärs und dem meiner Frau zu dem Bürgermeister des Vorortes von Algier, in dem wir wohnten, zu verdanken hatte. Sie hatte ihn bei der Suche nach einer gesicherten Wasser-Versorgung kennen gelernt, und er gehörte zur Mannschaft der ersten Stunde der Unabhängigkeit unter Ahmed Ben Bella! Er war politisch in Ungnade gefallen, verfügte aber aufgrund seiner Vergangenheit über eine gewisse „Narrenfreiheit“. Er gehörte zu dem Kreis von Persönlichkeiten, die mir das innere Gefüge Algeriens erklärten und Türen öffneten!
Dieser Schutz galt leider nicht für einen Mitarbeiter im Konsulat, der infolge von Vorhaltungen seitens der DDR als „persona non grata“ das Land verlassen musste – freilich mit einer Frist von einer Woche.
Schutz für Deutsche bedeutete immer wieder größte Flexibilität im Umgang auch mit unseren Gastgebern, die im Reflex deutsch-freundlich, aber in manchen Dingen knüppelhart