des eigenen Tuns auf. Da denkt man anders über die Existenz und den Wert des Lebens nach. Und da breitet sich manchmal auch Hoffnungslosigkeit aus. Gleichfalls sind da all die anderen Menschen in dieser Gesellschaft, die sich mit den Folgen von Corona konfrontiert sehen: Angehörige, die einen lieben Menschen verlieren. Oder wenn der Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann. Da bleiben Angst und Leere zurück. Wenn Kontaktverbote ausgerufen werden, machen sich Isolation und Einsamkeit breit. Wenn die Gestaltungsfreiheit über das Leben wegfällt, weil das gesellschaftliche Leben auf ein Minimum reduziert werden muss, schleicht sich irgendwann die Frage ein, welchen Sinn die eigene Existenz dann noch hat. Ist das noch Leben?
Während Camus die Fragen dahingehend obsolet macht, indem er dem Dasein generell die Sinnhaftigkeit abspricht und die Menschen damit aufruft, ihr Leben gerade trotz der Sinnlosigkeit so positiv und selbstmächtig wie möglich zu gestalten, möchte ich eine andere Lektüre und Perspektive anbieten. Gerade weil die Corona-Pandemie weltweit gezeigt hat, dass wir Menschen nicht unser Leben in der Hand haben, den Plan fürs Leben nicht eigenmächtig schmieden können.
Am Ende des Johannesevangeliums offenbart sich der Auferstandene am See von Tiberias nochmals seinen Jüngern (Joh 21,1–14). Diese Begegnung ist gleichermaßen eingebettet in die existentielle Erfahrung von Scheitern, von Tod und Verzweiflung. Die Jünger, die einst ihre Heimat für Jesus verlassen hatten, sind zurück in Tiberias. Hatten sie sich nicht einen größeren Sinn, eine Befreiung von der Hoffnungslosigkeit, der Angst, der Unterdrückung erhofft? War nicht all das Inhalt der Predigt Jesu? Ihre Hoffnung auf diesen Jesus ist geradezu zerschellt. Jesus, der den Sieg des Guten über das Böse, die Überwindung des Todes versprochen hatte, ist selbst dem Tod erlegen. Dieser allmächtige Vater Gott konnte offenbar nicht siegen, seinen Sohn nicht vor dem Tod bewahren. Oder schlimmer noch: War nicht sogar der, der am Pfahl hängt, selbst von Gott verflucht? Welch größere Hoffnungslosigkeit kann es geben? Wie müssen sich die Jünger wohl gefühlt haben, nachdem dieser große Traum zerplatzt war? Das sinnhafte Fundament ihres Daseins wurde ihnen radikal entzogen. Aber sie scheinen sich, wiewohl stoisch und resigniert, dieser Absurdität zu fügen. Sie kehren zu ihrem Leben als Fischer zurück. Aber selbst diese Rückkehr hält weiteres Scheitern bereit. Die Jünger fallen nicht nur hin, sie fallen sogar noch tiefer als sie begonnen hatten. Nach ihrer Rückkehr vermögen sie nicht einmal mehr einen einzigen Fisch zu fangen. Und das, obwohl sie die ganze Nacht auf dem See verbracht hatten. Ihre Routine, ihr berufliches Können, alles vergeblich. Nicht einmal mehr für ihren Lebensunterhalt können sie sorgen. Frustration, Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit – dies müssen die Gefühle der Jünger an diesem frühen Morgen gewesen sein.
Und dann steht da einer am Ufer, noch unerkannt. Er fordert die Jünger auf, es noch einmal zu versuchen, das Netz erneut auszuwerfen. Eigentlich fordert Jesus hier ein absolut sinnloses Unterfangen. Am helllichten Tag sind im See keine Fische zu fangen, sie tauchen in die Tiefen ab. Aber aller Erfahrung zum Trotz, die Jünger folgen seinem Rat und das Unvorstellbare geschieht: Das Netz ist voller Fische.
Während man zunächst meinen könnte, hier von einer weiteren Wundergeschichte Jesu zu erfahren, sollte man einen zweiten Blick wagen. Es geht in dieser Begegnung weniger darum, dass Jesus die Gesetzmäßigkeiten auf dieser Welt aushebelt und das Unmögliche möglich macht. Es geht vielmehr darum, dass dieser Jesus mit seinem Erscheinen und Wirken die absolute Sinn- und Hoffnungslosigkeit mit Sinn und Hoffnung durchbricht.
In der Szene am See Genezareth weist er über eine banale Alltagssituation, den bleiernen Berufsalltag, zu dem seine Jünger nach dem großen Scheitern zurückgekehrt sind, hinaus. In diesem Durchbrechen der geradezu depressiven Verzweiflung durch ein „kleines Wunder“ gibt er einen Ausblick auf einen noch viel größeren Sinn, auf eine befreiende Hoffnung. Wenn Jesus es schafft, diese Hoffnungslosigkeit zu überwinden, gilt das dann nicht auch für die Sinnlosigkeit des Todes?
Auch die Jünger ahnen in dieser Szene, dass es sich um mehr handelt als um einen wunderbaren Fischfang. Denn der Jünger, den Jesus liebte, erkennt Jesus als den Auferstandenen, und begreift, dass dieses Wunder, das sie aus ihrer Verzweiflung herausholte, nur der Anfang, das Zeichen für etwas noch Größeres ist. Es ist das Zeichen für das verheißene Leben, für die zugesagte Erlösung aus allen stets wiederkehrenden Hoffnungs- und Sinnlosigkeiten. Deram Kreuz Getötete erweist sich als der, der dem Leben dient, erweist sich als lebendig! Gott erweist sich als Gott des Lebens!
Und diese Erfahrungen machen auch wir in unserem Leben, in unserem Alltag immer wieder. Da blitzt an grauen Tagen auf einmal Hoffnung durch. Da reißen uns Begegnungen und Gesten aus der Sinnlosigkeit. Auf trostlose Tage, in denen wir mutlos sind, folgen wegen kleiner Begebenheiten plötzlich Motivation, Kraft und Lebensfreude. Da sehen wir selbst in Krisen wie der jetzigen Pandemie, dass es neben Verzweiflung, Angst und Isolation sehr viel stärkere und positive Mächte gibt, weil Menschen auf einmal mehr Rücksicht nehmen, mehr Solidarität zeigen, einfühlsam reagieren oder sich liebevoll sorgen. Menschen sind auf einmal zu sehr viel Gutem fähig – über alle Eigeninteressen hinweg. Selbst in der gefühlt größten Absurdität, im Scheitern, gibt es diese Erfahrungen, die uns ahnen lassen: Es gibt einen Sinn, es gibt das Gute, es gibt Gott, der unser Leben will, weit über unsere durchlittenen Nächte hinaus. Dafür steht der frühe Morgen, der über den irdischen Horizont hinausweist.
Und so würde ich Camus einerseits Recht geben mit seiner Behauptung, dass das Leben manchmal absurd ist, dass es beizeiten sinnlos erscheinen kann. Aber weil ich auch in den Situationen und Erfahrungen der Sinnlosigkeit immer wieder die kleinen göttlichen Zeichen erkenne, kann ich darauf hoffen, darauf vertrauen und daran glauben, dass es diesen Gott gibt, diesen Gott des Lebens und der Liebe, der uns zu sich ruft. Es ist dieser Gott, der der ganzen Welt, dem Dasein – auch in Krisen – einen Sinn zu geben vermag. Denn es ist dieser Gott, bei dem es letztendlich keine Verzweiflung, keine Hoffnungslosigkeit gibt, weil er sie überwindet. Und es ist dieser Gott, der uns befähigt und befreit hat, daran mitzuwirken. Wir müssen folglich nicht daran verzagen, dass wir immer wieder hinfallen. Vielmehr können wir uns einüben, die göttlichen Zeichen, die kleinen Hoffnungsmomente intensiver wahrzunehmen. Wir können im Vertrauen darauf, dass der Sinn in Gott begründet und bewahrt ist, immer wieder aufs Neue aufstehen und uns gegenseitig darin unterstützen. So geben wir der Welt selbst, auch in Corona-Krisenzeiten, jeden Tag ein wenig mehr Sinn, Freude und Leben.
STEPHAN BURGER
ERZBISCHOF VON FREIBURG
1Wolfgang Metz: Brannte uns nicht das Herz? Gedichte, Würzburg 2017, S. 53.
2Annäherung an die Wirklichkeit, in: Andreas Knapp: Weiter als der Horizont, Gedichte über alles hinaus, Würzburg 2002, S. 59.
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