Tall Poppy Syndrome oder ›at level‹
Gehe langsam, wenn du es eilig hast
VORBEMERKUNG
»Wir hätten eine Stelle für Sie in Wellington, wissen Sie, wo das ist?«
»In Neuseeland, am Meer glaube ich, die Hauptstadt ...«
»Wollen Sie dahin?«
»Berge kenne ich schon, also ja, am Meer ist gut.«
So lief das Gespräch, das uns nach Neuseeland brachte, und es fasst genau zusammen, wie viel ich bis dahin von diesem Land wusste. Wo sonst auf der Welt kann man auf einem Gletscher stehen, über den Regenwald blicken und das Meer sehen? Wo sonst auf der Welt ist es möglich, alle (!) Drehorte für den Herrn der Ringe und den Hobbit zu finden? Ich schweife ab.
Warum Neuseeland? Im Studium konnte ich aus persönlichen Gründen nie ins Ausland gehen, und ich wollte, bevor ich mich auf einer Stelle mit unbefristetem Vertrag auf Lebenszeit – hört sich an, als würde man seine Arbeit heiraten, seltsam – irgendwo niederlasse, raus in die Welt, um dort zu arbeiten. Gereist bin ich immer gerne, das verbindet mich mit meiner Frau. Besonders die Fernziele hatten es uns angetan. Wir dachten uns, Europa können wir dann machen, wenn wir Kinder haben.
So, dass dann logisch und folgerichtig der erste längere Ausflug mit Kindern wohin ging? Nach Neuseeland.
Um im Ausland zu arbeiten, empfiehlt es sich, die Sprache des Landes zu sprechen. Folgerichtig bestehen die meisten Länder auf einem entsprechenden Nachweis. Mit Englisch als einziger relevant beherrschter Fremdsprache schränkte sich das Gebiet ein. Da uns die englische Kultur näherstand als die nordamerikanische, lernte ich auf den IELTS-Test (International English Language Testing System). Einen Test, den jeder absolvieren muss, der in den Commonwealth-Ländern arbeiten will, um seine Sprachkenntnisse nachzuweisen. Mein Schnitt war gut genug, dass uns Neuseeland offenstand. Ich bewarb mich über eine Agentur für eine Stelle in Australien oder Neuseeland, da die bürokratischen Formalitäten erheblich sind, doch davon später mehr. Die Agentur sagt mir, man könne in sechs bis zwölf Monaten mit einem Angebot rechnen. So sage ich das meinem Chef. Nach vier Wochen kommt der Anruf, dem das Gespräch oben folgt. Es ist September, die Stelle wäre ab 1. Dezember. So sage ich das meinem Chef. Ich rechne es ihm bis heute hoch an, dass er sich für einen Auflösungsvertrag unterhalb meiner Kündigungsfrist eingesetzt hat. Obwohl es ihn geschmerzt hat, mich gehen zu lassen, meinte er nur: »Einen Reisenden soll man nicht aufhalten, das ist eine großartige Chance, machen Sie das!« Und so machten wir uns auf den Weg in das unbekannte Land, das und dessen Bewohner wir so lieben gelernt haben. Was ursprünglich nur für sechs Monate geplant war, wurde zu so viel mehr.
Natürlich werden hier Klischees bedient. Ich hoffe, unsere Zuneigung zu Land und den Leuten scheint immer deutlich durch den Spaß hindurch, und es ist eine balancierte Beschreibung, die mich genauso aufs Korn nimmt wie die liebenswerten Eigenschaften der Menschen und die Kultur des schönsten Landes der Welt.
MEIN TELEFONINTERVIEW MIT NEUSEELAND
Wir warteten gespannt, ob und wann das Telefon klingelte. Das war vor Skype Business und Google Hangouts. Telefoninterviews für eine Arztstelle sind auch heute noch eher unüblich in Deutschland, obwohl der Fachkräftemangel zunimmt wie überall auf der Welt. Schuld daran sind die Australier. Wie bitte?
Nun, Menschen, die sich entschieden haben, im Gesundheitswesen zu arbeiten und die Ausbildung, sei es Pflege oder Ärzteschaft, bis zum Ende durchzuziehen und einen Abschluss zu machen, haben eine hohe Motivation, in diesem Beruf zu arbeiten. Nicht weil sie da jetzt einen Abschluss haben, sondern weil sie trotz all der Strapazen und den Arbeitsbedingungen gewillt waren, so lange durchzuhalten. Es muss ihnen persönlich viel geben, sonst macht man das nicht so lange. Was das ist, kann je nach Mensch ganz unterschiedlich sein. Doch die Grundidee, Menschen zu helfen, wenn sie es am nötigsten brauchen, ist schon mal weit verbreitet. Wegen Geld macht niemand Pflege. Jedenfalls nicht, weil man damit so viel Geld verdient und einem das Geld als intrinsischer Motivator so wichtig ist. Oder haben Sie schon mal jemand sagen hören: »Geh doch in die Pflege, da verdienst du super! Und die Arbeitszeiten sind auch klasse!«
Eher nicht. Und die Ärzte? Ich kenne zumindest keinen, der Medizin studiert hat, weil er aufs große Geld aus war. Schon welche, die aus Ärztefamilien kamen und den Plan hatten, Papas Praxis zu übernehmen, oder die ein Einser-Abi hatten und sich dann ein NC-Fach ausgesucht haben, weil sie konnten. Doch das ist am Anfang, viele von denen studieren nicht fertig oder arbeiten dann nicht in dem Beruf. Wer in dem Beruf so lange gearbeitet hat, dass er eine Ausbildung abgeschlossen hat, dem gibt dieser mehr als Geld. So ist das auch bei mir. Einser-Abi? Sicher nicht, ich hatte 3,1. Der Vater Arzt, ja, doch ohne Praxis, mit dem Mantra: »Junge, mach was anderes! Alles, nur nicht Medizin!« Was macht der Junge? Medizin! Hauptsache anders.
Und was haben die Australier jetzt damit zu tun? Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen herrscht weltweit. Qualifizierte Menschen kündigen oftmals aufgrund ihrer direkten Vorgesetzten oder der Unternehmenskultur. Dazu gibt es inzwischen gute Studien. Soll heißen, ich kündige nicht meinen Beruf – kommt ja auch von Berufung –, sondern meinem Arsch von Vorgesetztem. Und falls der zwar okay ist, aber die Kultur meiner Firma bzw. meines Krankenhauses sich ändert, dann kann es sein, dass ich den Job wechseln muss. Weil ich es einfach nicht mehr aushalten kann. So, und wer hat die besten Arbeitsbedingungen für medizinische Fachkräfte? Die Australier! Klasse Arbeitszeiten, klasse Bezahlung, Ansehen. Die Pflege ist komplett akademisiert, das bedeutet: Dort haben Pflegekräfte Nursing studiert. Die Ausbildung für Ärzte und Pflegepersonal