Mark Weinert

Doc Why Not


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zehn giftigsten Schlangen weltweit. Genau genommen sogar neun der neun giftigsten Schlangen weltweit. Deshalb wollen viele Neuseeländer nach ihrer Ausbildung nach Australien, nicht wegen der Schlangen, sondern da sie dort, neben den genannten Gründen, auch noch mehr – ungefähr das Doppelte – verdienen. Wer könnte es ihnen verdenken. Deshalb und weil das neuseeländische Studium nicht genug Absolventen abwirft, um den Nachwuchs zu bedienen, entsteht ein Vakuum, das gefüllt werden muss. Gerne mit Engländern. Die gehen dorthin, wenn sie nicht in Australien unterkommen. Und werden auch gerne genommen, da sie eine ähnlich gute Ausbildung haben, die gleiche Sprache sprechen und aus einem Commonwealth-Land kommen, das erleichtert die Bürokratie rund um Visa und Arbeitsgenehmigungen. Das entstehende Vakuum in England wird aus Europa gefüllt. Unter anderem aus Deutschland. Unser Vakuum wird aus ... Ja, wer füllt das? Freiwillig? Nahes Osteuropa, bevor sie in der EU waren. Jetzt überspringen sie Deutschland gerne, um gleich nach England zu gehen. Und wer füllt die Lücke jetzt? Die Politik beschäftigt sich damit. Da bedeutet so viel wie: Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, und es wird keine zufriedenstellende Lösung geben, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Immer, wenn ein eigentlich autarkes System es nicht schafft, selbst eine funktionierende Lösung zu finden und ›die Politik‹ sich des Problems annimmt, kann man sicher sein, dass es unerfreulich wird.

      Also so viel zu ›die Australier sind schuld‹. Vor dem Interview fragte ich den Anästhesisten, der die Agentur leitet, die mich auf die andere Seite der Welt vermitteln wollte, wie ich mich auf das Gespräch vorbereiten könne. Schließlich ist es ein anderes Gesundheitssystem – wie anders, sollte ich noch zu spüren bekommen. Er antwortete: »Das ist ganz einfach. Medizin unterscheidet sich von Land zu Land unterschiedlich stark, doch die Prinzipien bleiben gleich. Wenn du jede medizinische Frage darauf zurückführst: ›Was ist das Sicherste für den Patienten?‹, wirst du nie falsch liegen. Das ist in allen Ländern das gleiche Prinzip.«

      Wow, okay, dachte ich. Klasse, das hört sich so richtig an, warum hat mir das in Deutschland noch nie jemand gesagt? Also niemand bei der Ausbildung an den beiden ›Ivy-League-Universitäten‹, an denen ich studiert, oder den normalen fünf Krankenhäusern, in denen ich bis dahin gearbeitet hatte? Dort stand hinter allem die Frage: Was ist ›richtig‹? Doch ›richtig‹ kann von verschiedenen Standpunkten aus gesehen werden. ›Richtig‹ im Sinne einer Leitlinie – das deckt sich sehr oft auch mit ›sicher‹ –, richtig im Sinne von ›für den Patienten‹, hier ist ›sicher‹ nicht immer gemeint. Richtig im Sinne von ›was will mein Oberarzt‹. Hier geht es manchmal schon weit weg vom sichersten Weg. Und schließlich: Was ist das Richtige, im Sinne von: ›Wo kommt unser Geld her?‹ Davon, dass wir Therapien und Prozeduren abrechnen können! Aus der Sicht von Verwaltung und Chefärzten. Was ist das Effektivste? Was ist das Effizienteste? Was geht am schnellsten? Alles Fragen, die man mir gestellt hat und ich mir in Folge dessen auch oft gestellt habe. ›Was ist das Sicherste für den Patienten?‹, war damals nicht die alles krönende Frage in Deutschland. Jetzt gibt es zumindest ein Patientenrechtegesetz und das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS), bei dem ich inzwischen selbst Mitglied bin. Dass es beides braucht, spricht Bände.

      Alle diese Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich aus meinem Stuhl hochfahre – das Telefon klingelt.

      »Hallo, this is Mark Weinert speaking.«

      »Hallo, hier ist Judith, deine Schwiegermutter.«

      »Jetzt nicht, Judith!«

      Ich lege auf und beweise damit wie schon viele Schwiegersöhne vor mir Takt, Feingefühl und das Talent, im richtigen Moment das Falsche zu sagen.

      Das Telefon klingelt wieder.

      »Es ist jetzt unpassend!«

      »Is this Mark Weinert?«

      »Yes, it is. I am, meine ich.«

      Das fängt ja gut an. Neben der schlechten Verbindung um die ganze Welt und meinem Englisch, das ich bis hierhin für ganz gut gehalten habe, hindert mich, dass ich erstaunlicherweise wirklich nervös bin. Mit jemandem in einer fremden Sprache zu sprechen, den man nicht sehen kann, ist ungleich schwerer. Man hat keine optische Rückmeldung, ob der andere einen verstanden hat und wie das Gesagte bei ihm ankommt. Und hier sind gleich drei am anderen Ende der Leitung. Sandy Garden, der Leiter der Ausbildung, Sally Ure, die Anästhesistin, die mit ihm zusammen über meine Einstellung entscheiden sollte, und eine Maori-Vertreterin, Paige Kaimoana. Deren Aufgabe ist es, darüber zu entscheiden, ob ich mit der Maori-Kultur zurechtkommen würde oder ob ich Probleme hätte, mit Menschen anderer Herkunft respektvoll zusammenzuarbeiten. Nach ein bisschen Small Talk und allgemeinem Vorstellen erzähle ich meinen Lebenslauf, wie ich das schon oft getan habe. Daraufhin bekomme ich ein paar Fragen zu meiner Motivation gestellt, warum ich ans andere Ende der Welt will und auch ein paar fachliche Fragen zu meiner Arbeit als Anästhesist, die ich alle mit »Also das Wichtigste ist, dass es am sichersten für den Patienten ist« beginne ... Im Wesentlichen wollen sie wissen, ob ich aus Versehen Patienten umbringe oder ›safe‹ bin. Ich bin ›safe‹. So weit, so gut.

      Dann kommt die Maori-Frau dran und fragt, ob ich schon mal in einem kulturell diversen Umfeld gearbeitet habe. Natürlich habe ich das. Drei Jahre habe ich in einem Krankenaus in Oberbayern gearbeitet. Für einen Kölner ist das eine Herausforderung der interkulturellen Diversität. Und dort auf dem bayerischen Lande war die Mehrzahl der Pflegekräfte aus dem Osten Deutschlands. Es wurde also hauptsächlich Sächsisch gesprochen. Sodass ich einmal eine neue Schwester, die aus dem Dorf stammte, in dem das Krankenhaus stand, und die breitestes Bayrisch sprach, gefragt habe, ob sie Probleme habe, den Akzent, der hier gesprochen wird, zu verstehen. Das erzähle ich allerdings nicht. Ich sage, dass München eine sehr multikulturelle Stadt ist und dass circa 20 Prozent der Menschen aus anderen Ländern kommen. Und ob ich in meinem Umfeld auch mit Menschen aus anderen Kulturen arbeite? Ja, durchaus. Der Chefarzt der Gefäßchirurgie ist Perser, seine Oberärzte sind Griechen. Der Gynäkologe ist Ungar, wir haben spanische, ungarische und natürlich viele türkische Pflegekräfte. In unserer Abteilung arbeiten ein Pole, ein Türke, ein Tscheche, eine Türkin, eine Chinesin, eine Spanierin, eine Zypriotin und zwei Bayern, sogar ein echter Münchner. Na, wenn das nicht reicht. Ob ich schon mal mit Maoris zusammengearbeitet hätte? Nein, noch nicht. Nun, man würde mich mit den entscheidenden kulturellen Informationen versorgen, damit ich gut zurechtkäme. Und das war es auch schon. Keine weiteren Fragen, euer Ehren. Zwei Tage später kommt die Zusage, und ich muss meinem Chef erklären, dass er meine Stelle mit jemand anderem besetzen könne. Und zwar schon viel früher als geplant.

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      BÜROKRATIE IN NEUSEELAND

      »Sie haben was, und Sie schlagen was genau vor?«

      In Deutschland denkt man, wir hätten eine ausufernde, undurchschaubare Bürokratie, die an Ineffizienz nicht zu schlagen wäre. Weit gefehlt. Inzwischen gibt es zwar sogar eine App, die von Flüchtlingen als Start-up entwickelt wurde, um sich durch den deutschen Bürokratiedschungel zu schlagen, doch das ist alles harmlos im Vergleich mit Neuseeland und der dortigen Bürokratie.

      Aber noch mal zurück zu Deutschland: Ich verstehe meine Steuererklärung nicht, und doch unterschreibe ich, dass alle Angaben richtig sind. Und jeder Berufsstand hat seine eigene Logik. Juristen-Logik, zum Beispiel der Gesetzestext zur Scherzerklärung: »Eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abgegeben wird, der Mangel der Ernsthaftigkeit werde nicht verkannt werden«, eine solche Willenserklärung ist nach deutschem Zivilrecht gemäß § 118 BGB nichtig. Das ist eine fünffache Verneinung. Ärzte haben ebenfalls ihre eigene Logik. Jeder, der einmal einen Arztbrief gelesen hat, versteht, dass er nichts versteht. Beliebt ist der Satz am Anfang: »Die Vorgeschichte dürfen wir als bekannt voraussetzen und verweisen auf den ausführlichen Brief vom ...« Das bedeutet: Ich weiß auch nicht, was der Patient sonst hat oder hatte. Der Brief liegt nie irgendwo vor. Und keiner weiß, was da drinstehen soll. Und so haben Automechaniker, IT-Spezialisten, Werber und wahrscheinlich auch Konditoren ihre eigene Sprache, die ihrer eigenen Logik folgt. Und ebenso die Ämter. Mit einem Amt kämpfte ich gerade –