Mark Weinert

Doc Why Not


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war, benötigte ich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der dortigen Ärztekammer, dass ich als Arzt in Österreich nicht in Ungnade gefallen war. Das heißt, dass ich nicht wegen eines Berufsverbrechens angeklagt war und kein Verfahren der Ärztekammer gegen mich anhängig war oder ist. Das Schriftstück, das mir meine weiße Weste bestätigte, bekam ich nach einem Anruf prompt und problemlos auf Englisch ausgestellt. Die ›Ösis‹ sind auf Zack. In Deutschland war es völlig unmöglich, die Bescheinigung auf Englisch auszustellen. »Wo kämen wir denn da hin?« Nach Neuseeland käme man, wollte ich schon sagen, hielt mich dann aber doch zurück. Es war nicht möglich, dass ich das österreichische Schriftstück auf Englisch vorformulierte und von der Deutschen Ärztekammer bestätigen ließ.

      Zurückhaltung fällt mir oft schwer. Ich bin als Kind mehr als einmal vom Wickeltisch gefallen, dabei ist der Filter, durch den bei den meisten Menschen alles geht, was sie sagen, kaputtgegangen. Ich sage oft genau das, was ich in dem Moment gerade denke. Das geht bei mir ganz ohne Alkohol und wird selten zu meinen Gunsten ausgelegt. Mühevolle dreißig Jahre hat es gebraucht, wieder einen halbwegs funktionierenden Filter zu installieren. Er funktioniert nicht immer:

      »Da könnten Sie ja reinschreiben, was Sie wollen!«

      »Das sind nur zwei Sätze auf Englisch!«

      »Sie können von mir nicht erwarten, dass ich das lesen kann.«

      Konnte ich das? Offensichtlich nicht. »Es sind nur zwei Sätze!«

      »Nein, das geht nicht. Wir stellen Ihnen das auf Deutsch aus, und dann können Sie das übersetzen lassen.«

      Übersetzen, natürlich nicht selbst, sondern von einer geprüften Übersetzerin. Sonst könnte ich ja irgendwas reinschreiben. Und dann kopieren und beglaubigen lassen. Und wie ich jetzt weiß, ist beglaubigt nicht gleich beglaubigt. Es gibt mehr als ›wahr‹. Dass es verschiedene Auffassungen von der Wahrheit gibt, ist nichts Neues. Seit Donald Trump wissen wir, dass es Menschen gibt, die nicht nur verschiedene Auffassungen von der Wahrheit haben, sondern dass sie glauben, es gäbe zwei verschiedene Wahrheiten, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Seit dem Ringen mit den neuseeländischen Behörden weiß ich, dass es nicht nur ›wahr‹ (beglaubigt), sondern mehr als ›wahr‹ gibt. Dann, wenn sie es selbst beglaubigt haben. Das heißt konkret, für manche Dokumente, wie zum Beispiel unsere Reisepässe, reichte eine normale notarielle Beglaubigung nicht aus. Es muss mehr als richtig und ›wahr‹ sein. Und wann ist etwas mehr als wahr? Sie können es sich schon denken: dann, wenn man es selbst macht – oder die Regierung. Wie bitte? Ja, das ist fast so gut wie selbst machen. Und genau an dem Punkt waren wir. Wir brauchten eine behördliche Beglaubigung unserer Reisepässe, da die notarielle Beglaubigung, die wir nach Neuseeland geschickt hatten, nicht genug war, doch davon später mehr.

      Damit wir als Familie ein Visum bekommen konnten, brauchte ich ein Arbeitsvisum. Dafür brauchte ich die Arbeitserlaubnis des Medical Council, das entspricht der Ärztekammer in Deutschland. Mit einem Touristenvisum einzureisen, wie das jeder Deutsche ohne Antrag könnte, um dann dort zu arbeiten, ist eine Straftat. Auch wenn das Verfahren für das Arbeitsvisum schon läuft. Gerade dann darf man mit seinem Touristenvisum nicht einreisen. Würde man erst mit dem Touristenvisum einreisen und sich dann plötzlich überlegen, hey, klasse Land, hier würde ich gerne arbeiten, ginge das natürlich. Aber da das Arbeitsvisum schon beantragt war, war dem ein Riegel vorgeschoben. Man hatte mir gesagt, dass man mit einigen Schwierigkeiten und Verzögerungen und alles in allem mit einem Vorlauf von sechs Monaten bis zu einem Jahr rechnen musste, um alle Genehmigungen beisammen zu haben. Wir hatten zehn Monate Vorlauf, und deshalb waren wir anfangs guter Dinge. Da die Unterlagen, die ich aus Österreich brauchte, so schnell kamen, dachte ich nicht, dass es zu ernsthaften Verzögerungen kommen würde. Doch langsam wurde es knapp. Wir wollten am 1. November fliegen, und ich sollte am 1. Dezember anfangen zu arbeiten. Vorher wollten wir ein bisschen das Land erkunden.

      Das Medical Council entscheidet über meine Arbeitserlaubnis und gibt dann der Botschaft grünes Licht, den Stempel mit dem Arbeitsvisum in den Pass zu klopfen. Die Arbeitserlaubnis hängt von vielen Dingen ab. Habe ich eine Ausbildung, die in Neuseeland gesucht wird (ja), habe ich einen Arbeitsvertrag (ja). Komme ich aus einem vergleichbaren Gesundheitssystem (ja). Wie weit bin ich in meiner Ausbildung (Zeugnisse aller Arbeitgeber übersetzt und beglaubigt), Approbation als Arzt (übersetzt und beglaubigt). Schulzeugnis (übersetzt und beglaubigt), Geburtsurkunde (übersetzt und beglaubigt), Gesundheitszeugnis für mich und die ganze Familie bei einem speziellen Arzt, der dafür zugelassen ist, das für Neuseeland zu erstellen. Also nicht ich selbst oder jemand aus meinem Krankenhaus (da könnte ich ja irgendwas reinschreiben). Bin ich gegen Hepatitis B geimpft? (Ja.) Röntgen der Lunge, habe ich oder meine Familie Tuberkulose? (Nein.) Hatte ich Kontakt zu Patienten mit Tuberkulose? (Nein.) Na ja, ich fahre S-Bahn in einer Großstadt, das bedeutet eigentlich ja, doch nie bestätigt, also ›nein‹. Das wollten Sie jetzt wahrscheinlich nicht wissen. Auch dass Sie, wenn Sie S-Bahn oder U-Bahn fahren, Hautschuppen anderer Menschen einatmen, wollten Sie nicht wissen. Das ist einer der Gründe warum wir nach Neuseeland wollten. Also nicht, dass Sie das nicht wissen wollten, sondern die klare Luft. Ich bin vor zehn Jahren an einem gutartigen Speicheldrüsentumor operiert worden: Eine Bestätigung des operierenden (!) Arztes, dass der nicht wiederkommt (Er kommt nicht wieder.) Ob ich Kommunist bin, hat mich niemand gefragt (nein). Ein sauberes Führungszeugnis (ganz weiß), eines aus Österreich (rot-weiß-rot). Die Unbedenklichkeitsbescheinigung meiner Ärztekammer (übersetzt und beglaubigt), das hatten wir schon. Drei persönliche Referenzen von Ärzten, unter denen ich gearbeitet habe. Die sie dann persönlich sprechen wollten (haben sie). Und nachdem alle Unterlagen vorliegen, dauert der ›Prozess‹, ich musste unweigerlich an Kafka denken, siebzehn Tage, bis die Entscheidung gefallen ist, ob ich gut genug für den Stempel bin, der dann wieder zu einem anderen, dem Visumsstempel, führt. Die Kommunikation über E-Mail ist einigermaßen schnell, und uns erwartet morgens beim Aufstehen oft eine E-Mail, in der steht, was noch fehlt oder was nicht passt.

      Mittlerweile rückt der Abflugtermin immer näher, und eines Tages kommt die E-Mail vom Medical Council, dass sie die Kopien unserer Reisepässe verschlampt hätten, dass das aber nicht so schlimm sei – dass sie sie verloren haben –, da die notarielle Beglaubigung ohnehin nicht ausreichend sei und wir ihnen deshalb sowieso eine neue schicken müssten. Diesmal rufe ich an. Ein weiteres Problem, das sich ergibt, ist: Unsere Pässe liegen schon in der neuseeländischen Botschaft und warten auf das Okay des Medical Council, damit sie gestempelt werden können. Die Botschaft ist in Berlin. Wir wohnen in München.

      »Was brauchen Sie denn für eine Beglaubigung, wenn eine notarielle nicht ausreicht?«

      »Nun, es muss eine Regierungsstelle sein – oder wir könnten das machen. Wenn Sie uns die Pässe schicken.«

      Wir haben einen fest gebuchten Flug in zwanzig Tagen.

      »Nur, damit ich Sie richtig verstanden habe: Sie haben gerade die Kopien unserer Pässe verloren und schlagen vor, dass wir Ihnen unsere Original-Reisepässe nach Neuseeland schicken, damit Sie sie kopieren können und Sie sie dann wieder in die Botschaft nach Berlin schicken, damit sie dort gestempelt werden?«

      »Ja.«

      »Die Pässe liegen aktuell in Berlin bei der Botschaft. Können Sie nicht einfach dort anrufen, dass die eine Kopie machen, schließlich ist das ja eine Regierungsbehörde?«

      »Nein, wir können da nicht anrufen, das ist weder deren noch unsere Aufgabe.«

      »Wie lange dauert der Prozess noch einmal, wenn alles vorliegt?«

      »Der dauert, im Allgemeinen, siebzehn Tage.«

      »Danke, ich werde mir etwas einfallen lassen ...«

      Glücklicherweise arbeitet ein Freund von uns im Außenministerium in Berlin.

      »Thomas, kannst du unsere Pässe aus der neuseeländischen Botschaft holen, eine Kopie erstellen und einen Stempel aus deinem Büro drauf machen, dass es irgendwie offiziell aussieht?«

      »Klar.«

      Innerhalb eines Tages waren die ›behördlich beglaubigten‹ Kopien per Einschreiben auf dem Weg nach Neuseeland.