Klaus Hofstedt, und er war mit einem Mal völlig konzentriert und hellwach. Müdigkeit und Resignation waren wie weggeblasen, als er sich nun daran machte, Dr. Winter von der Kurfürsten-Klinik eingehend zu befragen. Je länger das Gespräch dauerte, um so aufgeregter wurde er. Sein Dienst war oft anstrengend und frustrierend, Erfolgserlebnisse waren selten. Aber hier kündigte sich genau das glückliche Ende an, das er für Frau Baumann und ihren Sohn erhofft hatte. Schon nach wenigen Sätzen konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der kleine Junge, den sie aus Argentinien zu Besuch hatte, gefunden worden war.
Als das Gespräch beendet war, wählte er sofort Lisa Baumanns Nummer. Er freute sich, derjenige zu sein, der ihr die gute Nachricht überbringen konnte.
*
Stefanie Wagner war auf die Innere Station verlegt worden. Man hatte ihr gesagt, man wolle sie noch zwei Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten – der Schock, den sie bei dem Unfall davongetragen hatte, war erheblich gewesen. Noch immer mußte sie krampfhaft ein Zittern unterdrücken, wenn sie das Bild des auf der Straße liegenden Jungen vor sich sah, auf den sie mit scheinbar unverminderter Geschwindigkeit zuraste.
Mittlerweile wußten sie im Hotel sicherlich Bescheid. Sie durfte gar nicht daran denken, was dort alles schiefgehen würde, wenn sie nicht da war. Sie hatte eine Tagung vorzubereiten, die am Wochenende stattfinden sollte – fünfzig Teilnehmer aus mehreren Nationen.
Ihr Chef, Andreas Wingensiefen, dem sie direkt unterstellt war, hatte die Vorbereitung völlig ihr überlassen. Mit seinem üblichen spöttischen Lächeln hatte er gesagt: »Sie wollen doch mal die Leitung dieses Hotels übernehmen, schöne Kollegin. Dann zeigen Sie mal, was Sie können!«
Und sie hatte die Zähne zusammengebissen und sich in die Arbeit gestürzt. Natürlich wollte er sie testen, wollte sehen, wie belastbar sie war. Ihr Job als Assistentin des Direktors war auch ohne solche Zusatzaufgaben schon aufreibend genug. Sie wußte nur zu gut, daß die Angestellten des Hotels Wetten darauf abschlossen, wie lange sie es mit dem cholerischen Andreas Wingensiefen aushielt. Der hatte bisher noch alle geschafft…
Mich nicht! dachte sie und sah aus dem Fenster. Auch wenn dieser Unfall eine Katastrophe war für das, was sie noch an Arbeit zu erledigen hatte. Ihre Kollegen würden seelenruhig alles liegenlassen in diesen zwei Tagen, und danach konnte sie sehen, wie sie fertig wurde. Vielleicht sollte sie doch noch einmal mit den Ärzten hier reden. Sie mußte arbeiten, sie hatte keine Zeit, hier herumzuliegen.
Aber tief in ihrem Innern wußte sie, daß das nicht stimmte. Sie hätte gehen können – auf eigene Verantwortung. Niemand hätte versucht, sie daran zu hindern. Aber die Wahrheit, die sie selbst verblüffte, war, daß sie es genoß, hier in dieser Klinik im Bett zu liegen, sich versorgen zu lassen und gar nichts zu tun.
Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich vorsichtig. Aber noch bevor sie den Kopf wenden konnte, um zu sehen, welche Schwester diesmal kam, um sich zu vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war, sagte eine wohlbekannte Stimme: »Mein Gott, Steffi, du kannst einem aber auch einen Schrecken einjagen!«
Oliver Mahnert, ihr Exfreund! Sie seufzte unhörbar, dann wandte sie ihm den Kopf zu und fragte: »Woher weißt du denn, daß ich hier bin?«
»Ich habe in deinem Büro angerufen, weil ich dich zum Essen einladen wollte heute abend. Aber statt mit dir wurde ich mit deinem Chef verbunden. Ich soll dich grüßen von ihm.«
»Ist ihm bestimmt schwergefallen«, murmelte Stefanie. »Für den zählen nur Menschen, die arbeitsfähig sind.«
Das war ungerecht, und sie wußte es. Wingensiefen und sie arbeiteten gut zusammen, seit sie sich an seine Wutausbrüche gewöhnt hatte. Sie konnte auch wütend werden, und das hatte sie ihn schon gelegentlich spüren lassen. Zuerst war er völlig verblüfft darüber gewesen, daß er nicht der einzige war, der schreien konnte. Dann hatte er offenbar darüber nachgedacht und war seitdem, zumindest ihr gegenüber, ein bißchen vorsichtiger.
»Was ist denn nun passiert?« fragte Oliver Mahnert besorgt. »Wird hier auch alles für dich getan?«
Sie hätte ihn schütteln können. Vor fünf Jahren hatte sie geglaubt, in ihn verliebt zu sein, und gerade seine fürsorgliche Art hatte sie für ihn eingenommen. Aber schon nach kurzer Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, in seiner Gegenwart zu ersticken und sich von ihm getrennt. Sie war kein Püppchen, auf das ständig jemand achtgeben mußte! Sie konnte recht gut für sich selbst sorgen.
Oliver hatte das einfach nicht einsehen wollen. Und deshalb tat er so, als sei diese Trennung nur vorübergehend – sie würde, glaubte er, nur solange dauern, bis Steffi endlich seinen wahren Wert erkannt und begriffen hatte, daß sie ihn in Wirklichkeit ebenso liebte wie er sie. Und so hatte er beschlossen, auf sie zu warten, denn für ihn stand außer Frage, daß sie die Frau seines Lebens war.
Stefanie hatte ihm schon mehr als hundertmal erklärt, daß er sich irrte, aber er glaubte ihr nicht. Mit überlegenem Lächeln hörte er sich ihre Erklärungen jedesmal an – und dann war alles wie zuvor. Er lud sie zum Essen ein, er schickte ihr Blumen, er rief sie an, er schrieb ihr von jeder seiner Reisen reizende Karten. Er lud sie ins Konzert und in die Oper ein, und wenn sie Kummer hatte, dann war er der erste, der kam, um sie zu trösten. Wenn sie es zuließ. Meistens lehnte sie seine Einladungen ab und bedankte sich nicht einmal für die Blumen, die er ihr schickte. Und ihren Kummer teilte sie auch lieber mit anderen Menschen. Aber manchmal hatte eben auch sie ihre schwachen Momente.
Kurz gesagt: Oliver Mahnert machte sie wahnsinnig. Sie mochte ihn wirklich gern, etwas anderes ging auch gar nicht bei einem solchen Musterexemplar von Mann. Er sah gut aus mit seinen braunen Haaren und den ebenfalls braunen Augen im klaren, energischen Gesicht. Besonders groß war er nicht und auch eher kräftig als schlank, aber er kleidete sich ausgesprochen elegant und geschmackvoll. Er war Teilhaber einer gutgehenden Rechtsanwaltskanzlei und besaß eine wunderschöne Wohnung. Und immer wieder betonte er, daß sie auch für eine vierköpfige Familie groß genug war. Schließlich hatte er sie im Hinblick auf diese Familie, die er zu gründen gedachte, gekauft.
Aber Stefanie liebte ihn nun einmal nicht, daran war nicht zu rütteln. Und sie wußte mittlerweile wirklich nicht mehr, was sie noch tun sollte, um ihn davon zu überzeugen. Was immer sie in dieser Hinsicht sagte, es schien ihn überhaupt nicht zu erreichen.
»Hier wird sehr gut für mich gesorgt«, sagte sie als Antwort auf seine Frage. »Ständig kommt jemand und sieht nach mir.«
»Seit ich hier bin, war noch niemand da«, meinte er und sah auf seine Uhr. Wahrscheinlich, dachte sie ein wenig boshaft, wußte er genau, wie viele Minuten er bereits bei ihr war.
»Oliver«, sagte sie bittend, »fang nicht schon wieder an, mich zu bevormunden. Es geht mir nicht besonders gut, und ich habe keine Kraft mehr, mit dir zu streiten. Es ist lieb, daß du gekommen bist…«
»Aber am liebsten wäre es dir, wenn ich bald wieder gehe«, stellte er fest. Er wirkte nicht beleidigt, und das rechnete sie ihm hoch an.
»Ja«, gab sie zu. »Am liebsten liege ich ganz allein hier und lasse mich ein wenig hängen.«
»Aber dir ist nichts passiert?« fragte er besorgt. »Ich meine, du hast keine Verletzungen oder so etwas?«
»Nur einen Schock. Aber der reicht mir völlig.«
»Natürlich, entschuldige bitte die dumme Frage«, sagte er hastig. Dann fügte er schüchtern hinzu: »Laß mich noch ein paar Minuten hier sitzenbleiben, ja? Ich verspreche dir, kein Wort zu sagen. Aber vielleicht hilft es dir doch, wenn du weißt, daß ich in deiner Nähe bin.«
Sie schloß die Augen. Wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre, wäre sie mit Sicherheit auf ihn losgegangen. Er konnte es einfach nicht lassen, sie zu umsorgen wie eine Mutter ihr Kleinkind. Aber für dieses eine Mal würde sie es ihm durchgehen lassen. Für dieses eine Mal.
Wenn Stefanie Wagner gewußt hätte, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die nächsten Monate ihres Lebens haben würde, hätte sie ihre Kräfte vielleicht doch zusammengenommen und ihn gebeten, ihr Zimmer umgehend zu verlassen…
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