Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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über den Rücken. Es waren in der Regel gute und auch teure Häuser, aber dennoch waren die Zimmer unpersönlich und oft genug sogar geschmacklos eingerichtet. Hier jedoch war jemand mit viel Liebe zum Detail am Werk gewesen.

      Er überlegte gerade, wie er sich am besten nach Stefanie Wagner erkundigen sollte, als er durch erregte Stimmen am Nebentisch abgelenkt wurde. Unwillkürlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf die beiden dunkelhaarigen Männer, die heftig gestikulierend miteinander sprachen. Im ersten Augenblick hatte er angenommen, daß ein Streit ausgebrochen war, aber nun begriff er, daß die beiden Italiener waren und daß ihre Heftigkeit lediglich Ausdruck ihres südländischen Temperaments war. Er lächelte. Italien… Er war schon lange nicht mehr dort gewesen. Ein Urlaub am Meer, mildes Wetter und gutes italienisches Essen – das wäre vielleicht auch etwas gewesen für seinen Urlaub. Aber eine Woche war für ein solches Vorhaben eindeutig zu kurz.

      »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« fragte der Kellner die beiden Italiener am Nebentisch, und einer von ihnen antwortete in fast akzentfreiem Deutsch: »Ja, bitte. Aber wir möchten vorher noch einen Blick in die…«

      Adrian hörte nicht mehr zu. Auf einmal war ihm der verunglückte Junge wieder eingefallen, der nicht sprach. Sie hatten sich die ganze Zeit Gedanken über die möglichen medizinischen Ursachen gemacht, statt auf die nächstliegende Idee zu kommen: Vielleicht konnte der Kleine kein Deutsch! Er war so blond, daß sie alle automatisch davon ausgegangen waren, er müsse Deutscher sein. Wie dumm sie gewesen waren!

      Adrian war auf einmal fast sicher, daß hier die Lösung des Problems zu suchen war. Er mußte sofort zurück in die Klinik, um festzustellen, ob er auf dem richtigen Weg war. Eilig trank er seinen Kaffee aus. Den Gedanken, daß er Julia genausogut anrufen und ihr seine Überlegungen mitteilen konnte, verwarf er sofort wieder. Nein, nein, er mußte selbst mit dem Jungen sprechen.

      Fünf Minuten später war er bereits auf dem Weg zurück in die Kurfürsten-Klinik.

      Nun wußte er zwar noch immer nicht, in welcher Funktion Stefanie Wagner im King’s Palace arbeitete, aber das ließ sich ja auch später noch herausfinden. Sie würde sicher in den nächsten Tagen nicht kündigen.

      Er pfiff vor sich hin – das klang ungefähr so falsch wie sein Gesang, doch er selbst hörte es nicht. Er gestand es sich nicht ein, aber er war froh, einen Vorwand gefunden zu haben, noch einmal in die Klinik zurückkehren zu können. Es stimmte schon. Er war mit seinem Beruf verheiratet. Und eigentlich, fand er, war das auch völlig in Ordnung. Es war eine ausgesprochen glückliche Ehe bisher.

      Unwillkürlich mußte er lächeln. Julia Martensen und Monika Ullmann würden es sich natürlich nicht nehmen lassen, ihn aufzuziehen – aber wenn es ihm gelang, den Kleinen zum Sprechen zu bringen, würden sie schnell wieder damit aufhören.

      *

      Paul Lüttringhaus lag nach seiner Operation im Aufwachraum, und er war der lauteste Patient, der jemals dort gelegen hatte. Er schimpfte und wütete vor sich hin, seit er wieder bei Bewußtsein war. Und er hielt die Ärzte und Schwestern auf Trab, weil sie sich Sorgen um seinen Kreislauf machten.

      »Dieser verdammte Bengel!« schimpfte er, als wieder einmal ein Arzt nach ihm sah. »Der soll mir bloß unter die Augen kommen und seine Eltern noch dazu, dann können sie aber allesamt was erleben. Fährt völlig allein, ohne Helm und dann auch noch bei Rot über die Ampel. Und ich ruiniere mir dabei meine Gesundheit…«

      »Hören Sie auf zu schimpfen, Herr Lüttringhaus, das ist nicht gut für Sie. Sie brauchen Ruhe«, sagte der junge Arzt, der noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit Patienten hatte und sich deshalb ein wenig fürchtete vor diesem Mann mit den blitzenden Augen und der lauten Stimme. Niemand hatte ihn während des Studiums auf randalierende Frischoperierte vorbereitet. So etwas war nicht vorgesehen. Patienten, die gerade eine schwere Operation hinter sich gebracht hatten, lagen still und blaß im Bett und waren froh, daß sie alles überstanden hatten – so hatte er es gelernt. Und so hatte er es auch erwartet. Aber bei Paul Lütthaus war alles anders.

      Nach der gutgemeinten Bemerkung des jungen Arztes ging der Patient nun mit ungestümer Energie auf diesen los. »Reden Sie doch nicht so ein dummes Zeug!« rief er empört. »Ich muß meine Wut herauslassen, sonst ersticke ich daran, das können Sie mir glauben. Wozu soll es denn gut sein, daß ich hier herumliege und alles in mich hineinfresse? Mein Bein schmerzt höllisch, ich bin wütend und verzweifelt. Was erwarten Sie denn eigentlich von mir?«

      Als er keine Antwort bekam, fragte er mißtrauisch: »Oder wollen Sie etwa sagen, daß ich im Unrecht bin?«

      Der junge Mediziner wünschte sich, daß ihm in dieser verzwickten Situation einer der erfahrenen Kollegen zur Seite gestanden hätte, aber es war niemand da, der ihm hätte helfen können. »Nein, natürlich nicht, Herr Lüttringhaus«, begann er verzweifelt von neuem. »Aber es ist trotzdem so…«

      Paul Lüttringhaus ließ ihn nicht ausreden. »Sehen Sie! Ich bin im Recht, also kann ich mich auch aufregen. Das erleichtert mich.« Plötzlich unterbrach er sich und betrachtete den blassen jungen Mann, der an seinem Bett stand, aufmerksam. Mit völlig veränderter Stimme fragte er, auf einmal ganz ruhig: »Du liebe Zeit, Sie beziehen das doch nicht etwa auf sich?«

      Der junge Mann wurde rot. »Nein, natürlich nicht, aber…«

      »Aber es wäre Ihnen trotzdem lieb, wenn ich mich endlich beruhigen würde«, stellte Paul Lüttringhaus, noch immer ganz gelassen, fest.

      »Ja«, gab der junge Arzt erleichtert zu.

      Er hatte es geschafft, der Patient tobte nicht mehr. Das war ein erster Erfolg, auf den er stolz sein konnte. Doch er mußte schon im nächsten Augenblick einsehen, daß er sich zu früh gefreut hatte.

      »Versteh’ ich, aber den Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun!« Paul Lüttringhaus grinste den Arzt entschuldigend an und fing ohne weitere Vorwarnung wieder an zu toben. »Schaffen Sie mir gefälligst die Eltern von diesem Bengel hierher«, schrie er, »damit ich sie ungespitzt in den Boden rammen kann. Die haben mein Leben ruiniert, wissen Sie das überhaupt? Ich bin nämlich Sportlehrer. Haben Sie schon einmal einen Sportlehrer mit einem kaputten Bein gesehen?«

      Der junge Mediziner floh. Diesem Patienten war er nicht gewachsen. Sicher, der Mann war unverschuldet in einen Unfall verwickelt und dabei schwer verletzt worden. Verständlich, daß er völlig außer sich war. Aber trotzdem. Es war nicht zum Aushalten mit Paul Lüttringhaus!

      *

      »Ich träume!« sagte Julia Martensen, als ihr Kollege Adrian Winter plötzlich erneut vor ihr stand.

      Er beugte sich vor und kniff sie leicht in den Arm.

      »Aua!« sagte sie. »Ich träume also nicht, und du bist wirklich schon wieder hier. Adrian, was ist denn jetzt schon wieder passiert?«

      »Nichts«, antwortete er.

      Sie sah ihn prüfend an. »Ich muß dich enttäuschen. Dieses Mal wird es dir nicht gelingen, den Retter in der Not zu spielen. Wir haben alles bestens im Griff – und operiert werden muß im Augenblick auch niemand.«

      »Spricht der Junge mittlerweile?«

      »Nein, tut er nicht. Aber er ist bei Bewußtsein und verfolgt das Geschehen um ihn herum aufmerksam. In zwei Stunden wird er auf die Kinderstation verlegt.«

      »Also habt ihr doch nicht alles im Griff«, stellte Adrian fest.

      Julia legte den Kopf schief und sah ihn mit einem fast mütterlichen Blick an. »Was ist los, Adrian? Warum schaffst du es nicht, dich wenigstens für kurze Zeit von deiner Arbeit zu lösen? Das ist nicht gesund, weißt du das? Jeder Mensch muß ab und zu abschalten.«

      »Das weiß ich«, erwiderte er ernsthaft. »Aber was soll ich machen, wenn mir dieser Junge nicht aus dem Kopf geht?« Er verschwieg wohlweislich, daß ihm auch die Veilchenaugen von Stefanie Wagner nicht aus dem Kopf gingen, aber das gehörte, fand er, überhaupt nicht hierher.

      »Ach, und weiter?« fragte Julia. »Er geht dir nicht aus dem Kopf, und deshalb hast du beschlossen, deinen Urlaub jetzt doch in der Klinik zu verbringen?«