Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


Скачать книгу

wäre in Tränen ausgebrochen vor Erleichterung!«

      Mit freundlichem Lächeln verabschiedete sich Adrian von der Anästhesistin und der OP-Schwester und ging hinaus.

      Draußen streckte er die müden und verspannten Glieder. Ein merkwürdiger erster Urlaubstag, dachte er. Nun, er würde noch einmal nach dem Kind und der jungen Frau mit den Veilchenaugen sehen – und dann konnte er sich überlegen, was er mit dem Rest dieses Tages anfangen wollte.

      *

      Dr. Julia Martensen war mit dem Jungen selbst beim Röntgen gewesen, und zum Glück hatte sich herausgestellt, daß er keinen Schädelbruch davongetragen hatte. Er hatte eine Gehirnerschütterung und, wie Adrian Winter schon am Unfallort festgestellt hatte, einige Prellungen und Hautabschürfungen – sonst aber war ihm wie durch ein Wunder nichts passiert.

      Etwas aber berunruhigte Julia: Der Junge sprach nicht. Was immer sie auch bisher versucht hatte, er sagte kein einziges Wort. Seine dunklen Augen sahen sie aufmerksam an, aber sie hatte das Gefühl, daß er sie gar nicht hörte.

      War es möglich, daß eine Verletzung übersehen worden war? Nein, beantwortete sie sich ihre Frage gleich selbst. Das war nicht möglich. Er war gründlich untersucht und geröntgt worden, und nirgends hatte sich ein Hinweis darauf ergeben, warum der Junge nicht sprach. Es mußte der Schock sein, der noch immer nachwirkte. Hoffentlich hat er ihn bald überwunden, dachte sie.

      Schwester Monika kam aus einer der Behandlungskabinen und fragte: »Und? Spricht er jetzt?«

      Julia schüttelte den Kopf. »Kein Wort, leider.«

      »Laß ihn doch einfach ein bißchen schlafen, er sieht sehr müde und ziemlich mitgenommen aus. Danach redet er bestimmt ganz von selbst. Vielleicht hat er auch Angst. Wieso ist er überhaupt noch hier?«

      »Auf der Kinderstation war kein Platz«, antwortete Julia. »Sie haben gefragt, ob wir ihn noch ein paar Stunden hierbehalten können.«

      »Der arme kleine Kerl.«

      »Wie geht’s Frau Wagner jetzt?« erkundigte sich Julia.

      »Sie ist ruhiger geworden, aber du hast recht, wir sollten sie auf eine Station verlegen. Sie hat einen sehr schweren Schock.«

      Julia nickte.

      »Wenn sie geglaubt hat, den Jungen überfahren zu haben, dann ist das nur zu verständlich. Frag doch mal in der Inneren nach, ob die sie für einige Tage aufnehmen können. Spricht sie?«

      »Kaum. Ich konnte sie noch nicht einmal fragen, ob ich jemanden benachrichtigen soll.«

      Eine müde Männerstimme sagte in diesem Augenblick: »Hallo, ihr beiden.«

      »Adrian!« rief Schwester Monika. »Du siehst völlig fertig aus!«

      »Danke«, sagte er mit der gleichen müden Stimme. »Das bin ich auch.«

      »Wie ist die Operation verlaufen?« fragte Julia besorgt.

      »Soweit ganz gut, Bernd ist noch oben«, berichtete Adrian. »Aber ich hätte gern, daß sich ein Orthopäde das Bein ansieht – und zwar so bald wie möglich.«

      »Heute nachmittag«, meinte Julia. »Ich kümmere mich darum, das verspreche ich dir. Und ich danke dir, daß du eingesprungen bist, Adrian. Jetzt darfst du mit etlicher Verspätung deinen wohlverdienten Urlaub antreten.«

      Er nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Wie geht’s dem Jungen und der Frau?«

      »Der Junge spricht nicht, das ist eigentlich das einzige, was uns ein bißchen Sorgen macht. Es haben sich auch noch keine Angehörigen bei uns gemeldet. Wir wissen also nicht, wie er heißt und wo er wohnt. Aber es geht ihm recht gut. Er hat keinen Schädelbruch, davor hatte ich ein bißchen Angst. Und auch sonst hat er viel Glück gehabt, daß nichts gebrochen ist.«

      »Frau Wagner steht noch immer unter Schock«, berichtete Schwester Monika. »Ich habe das Gefühl, sie glaubt noch immer nicht, daß der Junge wirklich lebt. Ich kann sagen, was ich will, sie denkt, ich will sie beruhigen.«

      »Ich würde gern kurz mal nach den beiden sehen«, meinte Adrian. »Was dagegen?«

      Julia schüttelte den Kopf. »Sie sind beide noch hier«, antwortete sie und zeigte auf die entsprechenden Kabinen. »Aber danach machst du Urlaub, versprochen?«

      Er nickte. »Muß ich ja wohl. Ihr wißt doch, daß ich mir sehr viel vorgenommen hatte für diese freien Tage.« Er drehte sich um und ging zu der Kabine, in der Stefanie Wagner lag.

      Sie sahen ihm nach. Er ging ein bißchen gebeugt, die Anstrengung der letzten Stunden war seinem Körper anzusehen.

      Schwester Monika zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt. »Ich glaube«, sagte sie, »heute war seinem Plan nach das Pergamon-Museum an der Reihe. Dafür hatte er mehrere Stunden vorgesehen.«

      »Die wird er dann morgen irgendwie herausarbeiten müssen«, erwiderte Julia.

      Sie wechselten einen kurzen Blick und fingen dann beide an zu lachen. Sie brachten dem jungen Arzt herzliche Zuneigung, gemischt mit Bewunderung für sein berufliches Engagement und sein außerordentliches Können entgegen. Aber diese Gefühle hinderten sie nicht daran, sich gelegentlich auf seine Kosten auch ein wenig zu amüsieren.

      *

      Stefanie Wagner fühlte sich schrecklich. Sie wußte mittlerweile, daß sie unter Schock stand, aber dieses Wissen half ihr nicht sehr. Ihr war kalt, doch zugleich fühlte sie sich fiebrig, und sie begann immer wieder unkontrolliert zu zittern. Das geschah vor allem dann, wenn die Bilder des durch die Luft fliegenden Jungen unvermittelt vor ihrem inneren Auge auftauchten. Er flog durch die Luft, und gleich darauf lag er regungslos auf der Straße – an einer Stelle, auf die sie mit großer Geschwindigkeit zuraste.

      Und das war der Punkt, den sie einfach nicht verstand: Wieso raste der Wagen weiter, wo sie doch mit aller Kraft auf die Bremse trat? Es schien alles vergeblich zu sein, denn der Junge kam immer näher! Immer näher! So nahe, daß sie ihn schließlich erreichte…

      Sie stöhnte, und plötzlich schob sich ein freundliches Männergesicht in ihr Gesichtsfeld. »Nicht«, sagte der Mann ruhig. »Versuchen Sie, nicht mehr daran zu denken. Es war nicht Ihre Schuld, und Sie haben den Jungen ja gar nicht überfahren.«

      »Aber…«, sie versuchte zu sprechen, doch die Worte wollten nicht heraus. Ihr Mund war trocken, und sie konnte kaum schlucken.

      Der freundliche Mann verschwand und kehrte gleich darauf mit einem Glas Wasser zurück. »Trinken Sie das«, sagte er. »Es wird Ihnen bald besser gehen.«

      Sie richtete sich mit seiner Hilfe auf und trank, dann ließ sie sich erschöpft zurücksinken. »Danke«, sagte sie, »aber das glaube ich nicht.«

      Er sagte nichts, sondern sah sie nur an. Sein Gesicht kam ihr jetzt, wo sie es genauer betrachtete, bekannt vor: dunkelblonde Haare, gerade Nase und kluge braune Augen, die sie aufmerksam ansahen. »Erinnern Sie sich an mich?« fragte der Mund, der zu diesem Gesicht gehörte.

      »Vielleicht«, murmelte sie undeutlich.

      Er setzte sich neben sie und fragte: »Und Sie wissen, was passiert ist?«

      »Der Junge!« krächzte sie und schloß die Augen. Ihr Herz fing an, wie wild zu klopfen, und erneut saß sie im Auto und raste auf den reglosen kleinen Körper zu…

      »Ich glaube, Sie wissen es nicht«, sagte der Mann an ihrem Bett leise. »Der Junge ist bei Rot über die Ampel gefahren und dann gestürzt, weil er nicht gesehen hat, daß ein Ast auf der Fahrbahn lag. Sie haben nichts falsch gemacht. Im Gegenteil. Es ist Ihnen sogar gelungen, das Auto rechtzeitig zum Halten zu bringen, was ein Wunder ist. Wahrscheinlich haben Sie ihm dadurch das Leben gerettet.«

      Sie wandte vorsichtig den Kopf, um ihn anzusehen. »Woher wissen Sie das?« flüsterte sie.

      »Er hat mich überholt, kurz vor der Ampel.« Seine Stimme war schön, ziemlich tief und weich. Es tat gut, ihm zuzuhören. Stefanie entspannte sich ein