Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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dir, es ist nicht so!« sagte sie.

      »Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er. »Im Grunde kommt ihr hier bestens ohne mich zurecht – nur in seltenen Ausnahmefällen seid ihr dann doch froh, daß es mich gibt.«

      »Fürs Pergamon-Museum ist es allerdings zu spät!« schaltete sich nun auch Monika Ullmann mit freundlichem Spott ein. »Aber wenn du dich morgen ein bißchen beeilst, dann kannst du den heutigen Rückstand leicht wieder aufholen.«

      »Blöde Ziegen!« sagte er gespielt beleidigt, aber seine Augen blitzten vor Vergnügen, und er sah längst nicht mehr so müde aus wie direkt nach der Operation. »Ihr seid doch bloß neidisch, weil ich jederzeit gehen könnte, ihr aber nicht.«

      »Dann tu’s doch!« antworteten ihm die beiden Frauen wie aus einem Munde.

      »Tu ich auch!« sagte er. »Wenn ich bloß sicher wäre, daß alles in Ordnung ist mit dem Jungen und mit Frau Wagner.«

      »Aber es ist alles in Ordnung«, betonte Julia. »Der Junge hat eine Gehirnerschütterung und wird eine Weile hierbleiben müssen. Es ist nichts gebrochen, und es besteht auch kein Grund zur Sorge. Das weißt du genausogut wie ich.«

      »Aber gesagt hat er bis jetzt noch kein einziges Wort, oder? Wie kannst du da sagen, daß alles in Ordnung ist?«

      Julia ließ sich überhaupt nicht erschüttern. »Er wird schon noch reden, das laß du nur unsere Sorge sein. Und Frau Wagner schläft jetzt, sie ist viel ruhiger geworden, nachdem du ihr noch einmal versichert hast, daß der Junge lebt. Du kannst also wirklich mit gutem Gewissen Urlaub machen.«

      Er gab so plötzlich nach, daß er sich selbst darüber wunderte. »Na schön«, sagte er. »Dann überlasse ich euch jetzt eurem Schicksal.«

      »Tschüs, Adrian«, sagte Julia nachdrücklich. »Bis in einer Woche.«

      »Nicht etwa bis morgen oder so!« fügte Schwester Monika hinzu. »Falls wieder irgend was passiert, meine ich!«

      Er würdigte sie keiner Antwort mehr. Kichernd sahen sie ihm nach. Er war zwar der Chef, aber manchmal war er zu komisch, fanden sie. Zum Glück verstand er Spaß. Bei Gelegenheit würde er es ihnen sicher heimzahlen, daß sie sich heute auf seine Kosten amüsiert hatten.

      *

      »Seit wann vermissen Sie den Jungen, Frau Baumann?« fragte der Polizeibeamte ruhig. Die junge Frau, die seit ein paar Minuten mit ihrem Sohn vor ihm saß, war völlig durcheinander und hatte Tränen in den Augen. Er mußte sie erst einmal dazu bringen, ihm einigermaßen verständlich zu erklären, was passiert war.

      Lisa Baumann fing an zu weinen, und seufzend wandte sich der Beamte an Alexander, der mit blassem Gesicht, aber gefaßt neben seiner Mutter saß. »Kannst du mir erzählen, was passiert ist?« fragte er.

      Alexander warf seiner Mutter einen scheuen Blick zu und nickte dann. Er hatte zwar ein bißchen Angst, aber er mußte seiner Mutter helfen, soviel hatte er verstanden. »Pablo ist bei uns zu Besuch«, erklärte er. »Er ist aus Argentinien und spricht kein Deutsch. Nur mit mir und den anderen Jungs kann er reden – so eine Mischung, verstehen Sie? Spanisch und Deutsch gemischt und…« Er suchte nach dem richtigen Wort.

      »Zeichensprache?« fragte der Polizist.

      »Ja, genau«, antwortete Alexander erleichtert. »Aber das geht nur unter uns. Mit Fremden geht das nicht.«

      »Wenn Pablo allein unterwegs ist, kann er sich also nicht verständigen?«

      »Nee, kann er nicht. Wir haben erst alle zusammen Fußball gespielt, dann habe ich mit Peter Elfmeterschießen geübt. Als ich damit aufgehört hab’, war Pablo weg. Ich dachte, er ist nach Hause gegangen.« Alexander schwieg, mehr gab es eigentlich nicht zu erzählen, fand er. Dieser Ansicht war der Polizist jedoch offenbar nicht.

      »Aber zu Hause war er nicht?« fragte er, um dem Jungen zu helfen. Allmählich verstand er, worum es ging. Die Frau war nicht zu beneiden. Ein Kind, für das sie die Verantwortung übernommen hatte, war verschwunden. Wieder seufzte er, diesmal aber aus Mitgefühl.

      Alexander schüttelte den Kopf. »Einer von den anderen hat gesehen, daß er mit meinem Fahrrad weggefahren ist«, sagte er. »Und jetzt hat meine Mutter Angst, daß ihm etwas passiert ist. Weil er sich doch hier nicht auskennt. Und weil er kein Deutsch spricht und so…« Seine Stimme erstarb.

      Der Beamte begann laut nachzudenken. »Für eine Vermißtenanzeige ist es zu früh«, meinte er. »Am besten wird es sein, wenn ich mich zunächst mal bei meinen Kollegen umhöre, ob sie etwas wissen. Danach müßten wir in den Krankenhäusern nachfragen, ob ein kleiner Junge auf einem Fahrrad verunglückt ist.«

      Lisa Baumann bewegte die blassen Lippen. »Verunglückt?« fragte sie mit tonloser Stimme. Natürlich war ihr dieser Gedanke längst selbst gekommen, aber zu hören, wie jemand anders ihn aussprach, hatte etwas besonders Erschreckendes.

      »Es ist ja nur eine Möglichkeit«, erwiderte der Beamte ruhig. »Ich fange mit der Umfrage bei meinen Kollegen an. Wollen Sie nicht wieder nach Hause gehen? Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, rufe ich Sie an, ich verspreche es Ihnen.«

      »Nein, bitte, ich möchte hierbleiben!« Es klang wie ein Aufschrei. »Ich… ich hätte zu Hause keine Ruhe«, fügte sie leise hinzu. »Bitte, lassen Sie uns hierbleiben.«

      »Aber wenn der Junge in der Zwischenzeit nach Hause kommt, dann sind Sie nicht da, Frau Baumann«, gab er zu bedenken.

      Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Unglücklich stand sie auf. Der Beamte hatte natürlich recht. Und vielleicht war Pablo ja schon da, wenn sie jetzt zurückkehrten, und der ganze Alptraum war vergessen. Doch wenn sie ehrlich war, dann glaubte sie nicht mehr an ein solches Wunder. »Sie sagen uns wirklich sofort Bescheid?« fragte sie. »Sie vergessen uns nicht?«

      »Ganz bestimmt nicht«, versicherte er. »Sie können sich darauf verlassen.«

      Schweigend schob sie ihren Sohn zur Tür, und sie verließen den Raum.

      Er sah ihnen durch das Fenster nach, wie sie mit gesenkten Köpfen nebeneinander herliefen. Dann griff er zum Telefon. Wenn er konnte, würde er ihnen helfen. Er hoffte sehr, daß es ihm gelang.

      *

      Adrian saß in seinem Auto und war auf dem Weg nach Hause. Jedenfalls dachte er das. Aber als er einige Minuten gefahren war, stellte er fest, daß er den völlig falschen Weg eingeschlagen hatte. Wo war er denn nur mit seinen Gedanken? Ärgerlich schimpfte er vor sich hin, als er plötzlich begriff, wohin er fuhr, denn die edle Fassade des King’s Palace tauchte vor ihm auf. Es war, wie er zumindest vom Hörensagen wußte, eines der teuersten Hotels der Stadt. Aber was wollte er hier? Warum war er hierher gefahren?

      Er beschloß, sich diese Frage nicht zu beantworten, denn die Antwort wäre ihm peinlich gewesen: Er wollte wissen, wo Stefanie Wagner, die Frau mit den Veilchenaugen, arbeitete. Aber soweit war er noch nicht, daß er das zugeben konnte. Und warum sollte er sich in seinem Urlaub nicht einmal eines der Nobel-Hotels von Berlin ansehen? Als normaler Bürger dieser Stadt hatte man dazu sonst ja nicht allzuviel Gelegenheit. Das King’s Palace stand zwar nicht auf seiner Liste von Sehenswürdigkeiten, denen er in seiner Urlaubswoche einen Besuch abstatten wollte, aber es stand ihm schließlich frei, diese Liste zu ergänzen und abzuändern. Es war sein Urlaub!

      Kurz entschlossen überließ er sein Auto einem der Bediensteten. Er würde sich einen vermutlich sündhaft teuren Kaffee im King’s Palace genehmigen. Und vielleicht fand er ja bei dieser Gelegenheit rein zufällig heraus, welcher Arbeit die schöne Stefanie Wagner in diesen heiligen Hallen nachging.

      Der Gedanke gefiel ihm. Zwar hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, was er mit diesem Wissen anfangen sollte, aber das würde sich dann schon ergeben. Er nahm in der edlen Bar Platz, gab seine Bestellung auf und lehnte sich behaglich zurück. Sein erster Urlaubstag war anders verlaufen als geplant – aber… Nun ja, man mußte sehen, was sich daraus ergab.

      Unauffällig sah er sich um. Die Ausstattung war unaufdringlich, aber teuer und elegant. Eine gelungene Mischung aus gediegen