Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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trug und wollte ihn deshalb eigentlich zur Rede stellen, aber er ist mir vor der Ampel einfach entwischt! Bei Rot weitergefahren, und dann hat er in der Eile den Stock nicht gesehen, der dort lag. Den Rest wissen Sie ja. Ich habe schon am Unfallort versucht, Ihnen zu sagen, daß der Junge lebt. Aber Sie wollten es wohl nicht glauben. Glauben Sie es mir jetzt?«

      Sie nickte und schloß müde die Augen.

      Adrian sprach weiter. »Er hat eine Gehirnerschütterung und ein paar Prellungen, sonst ist ihm nichts weiter passiert. Das ist das nächste Wunder. Vermutlich hat sein Schutzengel ganz besonders gut aufgepaßt.« Er schwieg und sagte dann mit einem Lächeln in der Stimme: »Allerdings muß er vorher geschlafen haben, sonst hätte er den Jungen bei Rot nicht weiterfahren lassen.«

      Sie öffnete die Augen und versuchte, ebenfalls zu lächeln. Es gelang ihr nicht ganz, aber es war immerhin ein Anfang.

      Adrian hätte fast nach ihrer Hand gegriffen, konnte sich aber im letzten Augenblick daran hindern. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau, selbst jetzt, wo sie blaß und elend aussah. Und sie hatte diese unglaublichen Augen, in denen man wahrscheinlich ertrinken würde, wenn man zu lange hineinblickte. Er ertappte sich dabei, daß er sich vorzustellen versuchte, was sie wohl für ein Mensch war. War sie temperamentvoll? Lustig? Eher ernst? War sie verheiratet und hatte Kinder?

      Das geht dich gar nichts an, Adrian Winter, dachte er streng und sagte dann behutsam: »Ich bin übrigens Dr. Adrian Winter.« Er wartete vergeblich darauf, daß sie reagierte und fuhr schließlich fort: »Bitte sagen Sie mir, ob wir jemanden benachrichtigen sollen, daß Sie bei uns sind. Ihre Angehörigen machen sich sonst sicher Sorge.« Er gestand sich nicht einmal selbst ein, daß es ihm in diesem Augenblick in erster Linie nicht um ihre Angehörigen ging. Er wollte nur wissen, ob sie vielleicht…

      Sie machte ein erschrockenes Gesicht. »Das habe ich völlig vergessen«, sagte sie leise und bat dann: »Bitte benachrichtigen Sie das King’s Palace. Dort arbeite ich. Die werden sich schon wundern, wo ich bleibe.«

      »Und sonst?« Er wunderte sich selbst über seine Hartnäckigkeit. »Ihre Eltern? Ihren Mann?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nur das Hotel bitte.«

      Jetzt war er genauso klug wie zuvor. Vielleicht wollte sie ja ihre Eltern und ihren Mann nur nicht beunruhigen… Ärgerlich biß er sich auf die Lippen. Geschieht dir ganz recht, dachte er und sagte laut: »Ich sorge gleich dafür, daß das Hotel benachrichtigt wird.«

      »Danke«, sagte sie.

      Er verließ den Raum und ließ sie allein. Sie fühlte sich ruhiger als zuvor. Vielleicht konnte sie ein wenig schlafen und danach ins Hotel fahren. Ihr Chef, Andreas Wingensiefen, tobte sicherlich schon längst. Wenn sie nicht da war, dann brach immer ziemlich schnell das Chaos aus im King’s Palace.

      Über diesem Gedanken schlief sie tatsächlich ein.

      *

      »Hallo, Kleiner«, sagte Adrian freundlich zu dem Jungen, dessen dunkle Augen sich sofort auf ihn richteten. Wie hübsch er war mit seinen blonden Haaren und den braunen Augen! Er war klein und ziemlich mager, das fiel Adrian erneut auf. Noch immer war sein Gesicht sehr blaß, aber das war nicht weiter verwunderlich, schließlich hatte er einen wirklich ganz schweren Unfall überstanden.

      »Die anderen haben mir gesagt, daß du noch kein Wort gesprochen hast«, begann Adrian. »Willst du vielleicht mit mir reden? Wir könnten dann einmal ein Gespräch unter Männern führen.«

      Die dunklen Augen sahen ihn an, aber der Junge gab durch nichts zu erkennen, daß er Adrians Worte gehört oder verstanden hatte. Und er öffnete nicht einmal den Mund, um ihm zu antworten. Von vornherein schien festzustehen, daß er nichts sagen würde.

      Doch so schnell wollte der Arzt nicht aufgeben. »Du kannst dir doch sicher denken«, sagte er freundlich, »daß sich deine Eltern Sorgen um dich machen. Wie sollen wir sie benachrichtigen, wenn du uns nicht einmal deinen Namen sagst? Hm?«

      Der Junge antwortete nicht, er sah ihn nur an. Allmählich verstand Adrian Julias Beunruhigung. Auch er begann sich zu überlegen, ob etwas übersehen worden war. Aber nein, das war nicht möglich. Der Junge hatte keine weiteren Verletzungen – er konnte mit Sicherheit sprechen, wenn er wollte. Nur: er wollte offenbar nicht, und Adrian Winter hätte zu gern gewußt, warum nicht.

      Er griff nach der Hand des Jungen und drückte sie. Der Kleine erwiderte den Druck nicht. Völlig schlaff lag die kleine in der großen Hand. Der Blick des Arztes wurde nachdenklich. »Was ist nur mit dir los?« fragte er. »Du wirst doch nicht dein Gehör verloren haben? Aber nein, dann würdest du versuchen, mit mir zu sprechen. Aber du liegst einfach da und siehst mich an. Warum sagst du nicht wenigstens ›Hallo‹?«

      Der Junge wandte den Kopf ab und schloß die Augen. Er sah traurig und ängstlich aus, und Adrian begann zu ahnen, daß er ein Geheimnis hatte. Aber wie sollte er dieses Geheimnis herausfinden, wenn der Junge nicht sprechen wollte?

      Er tätschelte dem Kleinen voller Zuneigung die Wange. Dieser reagierte auch jetzt nicht, und auf Zehenspitzen schlich der Arzt hinaus. Vielleicht schlief der Junge ein – und wenn er aufwachte, hatte er auch die Sprache wiedergefunden.

      *

      Alexander lief seiner Mutter entgegen, als sie die Wohnungstür aufschloß. »Und?« rief er gespannt. »Hast du ihn gefunden?«

      Wenn sie gehofft hatte, daß Pablo in der Zwischenzeit nach Hause gekommen war, so war ihre Hoffnung durch diese Frage ihres Sohnes zunichte gemacht worden.

      »Nein«, antwortete sie. »Ich habe überall nach ihm gesucht, aber nirgends eine Spur entdecken können. Es hat ihn anscheinend auch niemand gesehen.« Ihr Gesicht war bleich, und sie hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich muß zur Polizei, Alex. Ich bin sicher, daß etwas passiert ist, sonst wäre Pablo längst wieder da.«

      »Zur Polizei?« fragte Alexander mit großen Augen. »Aber er hat sich vielleicht nur verirrt, Mami, und wenn ihm jemand den richtigen Weg sagt, dann…«

      Sie unterbrach ihn. »Und wie soll das gehen?« fragte sie. »Er versteht doch kein Deutsch. Nur weil ihr beide euch verständigen könnt, heißt das noch lange nicht, daß er jemand anders nach dem Weg fragen und dann auch noch die Antwort verstehen kann.«

      Ihr Sohn ließ den Kopf hängen. »Ich wollte ihn nicht alleinlassen«, beteuerte er. »Ich hab’ nur mal ganz kurz ein bißchen Elfmeterschießen geübt – und plötzlich war er weg. Ich dachte doch, er ist hierher gegangen…«

      »Schon gut«, sagte sie müde. »Das bringt uns jetzt nicht weiter, Alex. Wir müssen ihn finden – und zwar so schnell wie möglich. Ich darf gar nicht daran denken, was ihm hier alles passieren kann.«

      Sie mußte sich sehr anstrengen, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr bereits in den Augenwinkeln saßen. Wenn sie nur den Jungen erst gesund wiederhatte! Obwohl er erst so kurz bei ihnen war, hatte sie ihn bereits ins Herz geschlossen. Der Gedanke, daß er jetzt völlig allein durch eine ihm fremde Stadt irrte, war ihr unerträglich. Und an die anderen Möglichkeiten durfte sie erst gar nicht denken. Wenn ihm nur nichts passiert war!

      »Kann ich mitkommen zur Polizei?« fragte Alexander kleinlaut. Er fühlte sich schuldig und wollte nicht mehr allein in der Wohnung bleiben.

      Seine Mutter nickte. »Ja, vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn du mitkommst. Ich rechne nicht mehr damit, daß Pablo plötzlich hier auftaucht, aber vorsichtshalber sage ich nebenan Bescheid, daß sie ihn nicht wieder laufenlassen, wenn er doch kommen sollte. Wir werden ja auch nicht lange weg sein.«

      Gemeinsam verließen sie die Wohnung, beide blaß und stumm und voller Sorgen.

      *

      »Du bist ja immer noch hier, Adrian!« sagte Julia Martensen erstaunt. Es war etwa eine Stunde, nachdem er sich mit Stefanie Wagner unterhalten hatte. »Hast du vergessen, daß heute dein erster Urlaubstag ist?«

      »Nein, nein«, versicherte er. »Ich gehe jetzt.«

      Sie lächelte ein wenig spöttisch. Zwar