Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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hatte nichts bei sich, und er war ganz allein. Wenn seine Eltern in der Nähe waren, dann haben sie von dem Unfall offenbar nichts bemerkt.«

      »Mhm.« Julia machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich hoffe, sie melden sich bald, das wäre für das Kind nur gut.« Dann lächelte sie den Sanitätern zu und sagte: »Danke!« Die Männer verließen das Krankenhaus sofort wieder, der nächste Einsatz wartete bereits auf sie.

      Der Junge wurde umgebettet, und die Ärztin machte sich umgehend an die Untersuchung. Wie war er so schmal und blaß! Seine Haare waren dunkelblond, das Gesicht feingezeichnet.

      »Hallo, Kleiner!« sagte sie sanft, als sie die Untersuchung beendet hatte, doch er reagierte nicht. Seine Augen blieben geschlossen. Er hatte Glück im Unglück gehabt, soweit sie das bisher beurteilen konnte. Aber natürlich würden sie seinen Kopf röntgen müssen, um ganz sicher zu gehen, daß er nicht etwa einen Schädelbruch hatte.

      »Tag, Julia!«

      Sie zuckte erschrocken zusammen, als ihr Kollege Dr. Adrian Winter plötzlich vor ihr stand.

      »Was machst du denn hier?« fragte sie ungläubig.

      Er machte sich nicht die Mühe, die Frage zu beantworten. »Und?« fragte er ungeduldig. »Hast du noch etwas gefunden?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber er muß zum Röntgen. Allerdings wäre es mir lieb, wenn er endlich aufwachen würde.«

      Adrian nickte und fuhr sich mit beiden Händen durch die dunkelblonden Haare. »Ich habe schon auf der Straße versucht, ihm eine Reaktion zu entlocken, aber es ist mir nicht gelungen.« Sanft strich er dem blassen Jungen über die Wange. »Wach auf, Kleiner!« murmelte er. »Du wirst uns doch keinen Kummer machen, hörst du? Und mir schon gar nicht, dies ist nämlich mein erster Urlaubstag, mußt du wissen.«

      Der Junge blinzelte ein wenig, dann machte er die Augen auf. »He!« sagte Adrian. »Da bist du ja! Jetzt kannst du uns auch endlich sagen, wie du heißt, damit wir dich ansprechen können.«

      Der Junge sah ihn aus dunklen unergründlichen Augen an, antwortete aber nicht.

      Nun versuchte Julia ihr Glück. »Heißt du Peter? Oder vielleicht Michael? Oder Benjamin? Du hast bestimmt einen sehr schönen Namen.«

      Das Kind sagte noch immer nichts, sah nur mit großen Augen von einem zum andern.

      »Ich fahre erst einmal mit ihm zum Röntgen, Julia«, entschied Adrian. »Das ist jetzt wichtiger.«

      »Wieso du? Du hast doch Urlaub und solltest dich endlich all dem widmen, was du dir für die nächsten Tage vorgenommen hast.«

      Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das hier ist wichtiger! Ich kann doch jetzt nicht einfach wieder gehen!«

      Sie verzichtete auf den Hinweis, daß er das sehr wohl tun könnte – und als sie das gedacht hatte, fiel ihr siedendheiß Paul Lüttringhaus ein. »Nein, du kannst wirklich nicht einfach wieder gehen!« rief sie. »Mein Gott, Adrian, dich schickt der Himmel!«

      Er machte ein mißtrauisches Gesicht. »Ach, auf einmal?« fragte er.

      »Ja, wegen Herrn Lüttringhaus!« rief sie. »Er muß doch operiert werden.«

      »Lüttringhaus?« fragte er verwirrt. Der Name sagte ihm nichts. Er hatte am Unfallort nicht nach dem Namen der Verletzten gefragt.

      »Der Mann mit dem verletzten Bein!« sagte sie ungeduldig. »Du mußt ihn operieren!«

      Er starrte sie an. »Wieso ich? Habt ihr etwa noch keinen Orthopäden benachrichtigt?«

      »Alle Operationsteams arbeiten«, erklärte sie hastig. »Auch das Bereitschaftsteam. Niemand steht zur Verfügung. Bernd ist jetzt erst einmal mit dem Patienten zum Röntgen gefahren, damit wir wissen, was mit seiner Kniescheibe ist. Ich habe ihm versprochen, währenddessen nach jemandem zu suchen, der die Operation übernehmen kann.«

      »Das muß eigentlich ein Orthopäde machen, das weißt du doch!« wiederholte Adrian hartnäckig.

      »Es ist aber keiner da!« Ihre Stimme war lauter geworden, als sie eigentlich gewollt hatte. »Verstehst du mich endlich? Du mußt den Mann operieren. Ich weiß nicht, wer es sonst tun sollte!«

      Den letzten Satz mußte sie schon hinter ihm herrufen. Er hatte sie endlich verstanden und war bereits in einen der Fahrstühle gesprungen, der sich im nächsten ­Augenblick in Bewegung setzte und nach oben fuhr.

      *

      Als Alexander Baumann in die Wohnung stürmte, schüttelte seine Mutter Lisa lächelnd den Kopf. Der Junge war so wild – er schlug wirklich ganz seinem Vater nach. Sie wartete auf den Schmerz, der sich immer meldete, wenn sie an Alexanders Vater dachte. Dieser war vor mehr als fünf Jahren an einer Lungenentzündung gestorben und hatte seine Frau und seinen kleinen Sohn zurückgelassen. Der Schmerz kam, aber er war milder als früher, und darüber war sie froh. Sie hatte sich in den ersten Jahren nach seinem Tod schrecklich gequält. Und wäre nicht ihr Sohn gewesen… Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

      Sie hatten es geschafft, Alexander und sie. Ihnen ging es gut, und sie war dankbar dafür. Alexander war ein Wildfang, aber er war ein lieber Junge, der immer spürte, wenn sie traurig war und der es bis jetzt noch jedesmal geschafft hatte, sie zu trösten, obwohl er erst acht Jahre alt war.

      Sie war mit ihrem Mann glücklich gewesen, aber er würde nicht zurückkommen. Allmählich wurde es Zeit, sich damit abzufinden. Und das gelang ihr jetzt besser als noch im Jahr zuvor. Sie würde ihren Mann nicht vergessen, aber sie wollte weiterleben, das wußte sie jetzt. Und wenn es möglich war, dann wollte sie auch wieder Freude am Leben haben.

      »Wo ist Pablo?« fragte sie, während Alexander seine Jacke in die nächste Ecke schleuderte.

      »Ich dachte, er wäre schon hier«, antwortete ihr Sohn und sah sie mit großen Augen an. »Er ist plötzlich verschwunden, und da dachte ich, er wollte zurück ins Haus.«

      »Habt ihr euch gestritten?« fragte Lisa beunruhigt. Sie war eine sehr zarte Frau – so schlank und zierlich, daß man auf die Idee kommen konnte, ein Windhauch würde reichen, um sie umzupusten. Aber in ihr steckte eine Menge Kraft, auch wenn man sie ihr nicht ansah. Sie hatte glatte aschblonde Haare, kluge braune Augen und ein hübsches Gesicht mit einer Stupsnase und einem etwas zu groß geratenen Mund, der neuerdings manchmal wieder lächeln konnte.

      »Quatsch!« sagte Alexander als Antwort auf ihre Frage. »Wir haben Fußball gespielt mit ein paar anderen – Pablo ist ein klasse Torschütze, Mami!«

      »Aber wo ist er jetzt?« fragte Lisa wieder und stand auf. »Er ist jedenfalls nicht hier, also muß er noch draußen sein.«

      »Er kommt bestimmt gleich«, meinte Alexander sorglos. »Du mußt nicht ständig auf ihn aufpassen, er ist schließlich kein Baby mehr!« Mit blitzenden Augen stand er vor ihr, als er das sagte, ihr kleiner Sohn, der schon so groß war, daß sie immer nur staunen konnte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er auf sie herunterblicken konnte. Er hatte ihre aschblonden Haare geerbt und ihren zu großen Mund – aber die blauen Augen und die geradezu klassische Nase hatte er von seinem Vater.

      Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß Pablo kein Baby ist, aber wir sind für ihn verantwortlich, Alex! Und ich will nicht, daß er allein draußen spielt. Er spricht kein Deutsch, und er kennt sich hier überhaupt nicht aus.«

      Alexander kicherte. »Der kann schon ganz viele deutsche Wörter, Mami, mehr als ich spanische. Außerdem war José dabei, der kann spanisch.«

      »Trotzdem«, sagte Lisa energisch, »ich gehe ihn suchen.

      Und du paßt das nächste Mal gefälligst auf, wo er hinläuft, verstanden?«

      Ihr Sohn verzog das Gesicht, aber als er ihren strengen Blick sah, sagte er widerwillig: »Alles klar!« Aber er folgte seiner Mutter nicht, als sie die Wohnung verließ. Er fand, daß sie mit ihrer Sorge übertrieb. Schließlich war Pablo sogar schon neun, und wenn man so alt war, dann konnte man längst auf sich selbst aufpassen.

      Lisa