Augen stand das blanke Entsetzen. »Ich habe ihn umgebracht.«
Er griff sanft, aber zugleich sehr bestimmt nach ihrem Arm und zwang sie, auszusteigen. »Nein, das haben Sie nicht!« widersprach er energisch. »Sie haben vorher bremsen können. Sie haben ihn nicht angefahren. Er ist verletzt, weil er vom Rad gestürzt ist, aber nicht, weil Sie ihn angefahren haben. Und er ist nicht tot, er lebt.«
»Was sagen Sie da?«
Langsam und sehr betont wiederholte er: »Der Junge lebt! Sie haben ihn nicht angefahren! Er ist böse von seinem Rad gestürzt und hat eine Gehirnerschütterung, aber er ist nicht tot. Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte zögernd, obwohl sie ihm offenbar noch immer nicht ganz glaubte. Seine Erfahrung sagte ihm, daß er weitersprechen mußte.
»Der Junge ist in guten Händen, er wird ebenfalls ins Krankenhaus gebracht. Und jetzt kommen Sie bitte mit mir! Der Rettungswagen wartet, aber wir dürfen keine Zeit verlieren, denn der Junge muß dringend behandelt werden. Und Sie auch.«
Endlich gab sie ihren Widerstand auf und folgte ihm. Wie eine Schlafwandlerin ließ sie sich von ihm zum Rettungswagen führen, wo die Sanitäter ihr halfen, in den Wagen zu steigen.
»Sie hat einen schweren Schock«, sagte Adrian leise zu dem älteren Sanitäter, den er kannte. »Sie hat gedacht, der Junge sei tot, und sie habe ihn angefahren.«
»Wir kümmern uns um sie, Dr. Winter, keine Sorge«, erwiderte der Sanitäter und sah die junge Frau mitleidig an. Er übte seinen Beruf schon lange aus, und noch immer brachte er großes Mitgefühl für die Menschen auf, die er Tag für Tag in eins der Krankenhäuser von Berlin brachte, und deshalb schätzte Adrian Winter ihn besonders.
»Ich folge euch mit meinem Wagen.«
»Bis gleich, Doktor!«
*
»Ich denke, er hat Urlaub?« Die Internistin Dr. Julia Martensen schüttelte den Kopf. Sie war eine hübsche, sehr schlanke Brünette von Ende Vierzig, die aber deutlich jünger aussah. Soeben war sie von Schwester Monika über den Anruf ihres Kollegen Winter informiert worden. »Und da baut er gleich am ersten Tag einen Unfall?«
»Ich weiß nicht, ob er in den Unfall verwickelt ist oder ihn nur gesehen hat«, erwiderte Monika Ullmann und strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung einige widerspenstige Haare aus dem Gesicht. Sie hatte einen lustigen, fast schwarzen Lockenkopf, aber ihre Haare hatten die Neigung, sich selbständig zu machen und legten sich nur selten so, wie Moni es gern gehabt hätte. Sie beschloß deshalb etwa alle vier Wochen, sich endlich einen radikalen Kurzhaarschnitt machen zu lassen: »Fünf Millimeter Länge – damit der Ärger ein Ende hat.«
Bisher freilich war es bei diesen Ankündigungen geblieben, worüber ihre Kolleginnen und Kollegen froh waren, denn der Lockenkopf war, wie es der Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer einmal ausgedrückt hatte, »Schwester Monikas Markenzeichen.« Er war verliebt in sie, was natürlich alle wußten, aber bisher hatte sie ihn eiskalt abblitzen lassen. Ihre Interessen lagen im Augenblick woanders. Und Dr. Schäfer war, wenn man es genau nahm, schon in jede Frau der Kurfürsten-Klinik verliebt gewesen. Aber da er ein äußerst schüchterner Mann war, war er bisher noch nie dazu gekommen, auch nur einer einzigen Frau seine Liebe zu gestehen.
»Typisch Adrian Winter!« Julia Martensen war mit dem Thema noch nicht fertig. »Keinem anderen Arzt würde es passieren, daß er an seinem ersten Urlaubstag gleich Zeuge eines Unfalls oder sogar darin verwickelt wird. Was hat er denn überhaupt gesagt?«
»Nur, daß ein kleiner Junge bös gestürzt ist und eine Gehirnerschütterung und Prellungen davongetragen hat und daß noch zwei andere…« Schwester Monika wurde unterbrochen, denn in diesem Augenblick kamen die Sanitäter im Laufschritt herein. Auf ihrer Trage lag ein Mann mit einer schrecklich aussehenden Beinverletzung, der leise vor sich hin fluchte.
»Dies ist Paul Lüttringhaus«, erklärte einer der Männer. »Dreiunddreißig Jahre alt. Er hat einen Schock und eine schwere Beinverletzung. Mehrere Brüche im Unterschenkel, Kniescheibe verletzt. Aber er ist stabil und bei Bewußtsein. Dr. Winter hat ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben.«
»Es war die Rede von einem Jungen«, sagte Dr. Martensen, die sich bereits über den Patienten beugte, während Schwester Monika zum Telefon lief, um das Operationsteam zu informieren.
»Der Junge und die Frau kommen mit dem nächsten Wagen«, antwortete der Sanitäter. »Der Junge hat eine schwere Gehirnerschütterung, die Frau einen Schock – das ist alles, was ich weiß. Sie müßten aber auch bald hier sein. Es war jedenfalls großes Glück, daß Dr. Winter sofort zur Stelle war.«
Julia hatte bereits die Hose des Patienten aufgeschnitten und das Bein vorsichtig untersucht. Die Kniescheibe war unförmig angeschwollen, und sie konnte nur für ihn hoffen, daß sie nicht völlig zertrümmert war. Er mußte jedenfalls von einem Orthopäden oder einem hervorragenden Chirurgen operiert werden, wenn er die Chance haben wollte, in seinem Leben jemals wieder laufen zu können.
Schwester Monika kam angerannt. »Kein OP-Team«, berichtete sie. »Die operieren alle.«
Julia Martensen sah auf den jungen Mann, der leise stöhnend vor ihr lag und murmelte: »Ist denn kein Chirurg im Haus, der gerade Zeit hat?«
»Nein, niemand«, antwortete Schwester Monika. »Selbst das Bereitschaftsteam operiert – und alle Operationen dauern länger.«
Nachdenklich richteten sich die Augen der Ärztin auf Dr. Bernd Schäfer. Der junge Mann mit den gutmütigen braunen Augen, den braunen Locken und dem massigen Körper war Assistenzarzt der Chirurgie. Aber er wäre mit einer solchen Operation hoffnungslos überfordert, das wußte sie. Er würde in diesem Fall nicht helfen können.
Er mißverstand ihren Blick und hob entsetzt die Arme. »Nein, nein!« sagte er. »Ich operiere dir jeden Blinddarm und von mir aus auch jede Gallenblase, aber dieses Bein – das ist eine Nummer zu groß für mich, Julia. Ehrlich. Da gehe ich allein nicht dran. Das muß ein Orthopäde machen. Hast du dir das mal genau angesehen?«
Sie seufzte. »Du sollst ihn ja auch gar nicht operieren, Bernd!« sagte sie resigniert. Sie wollte gerade weitersprechen, doch in diesem Augenblick flogen erneut die Türen der Notaufnahme auf. Zwei Sanitäter brachten den Jungen, den Dr. Winter angekündigt hatte, ein dritter führte eine blonde, sehr blasse junge Frau herein.
Julia Martensen machte ein grimmiges Gesicht. »Du fährst jetzt mit Herrn Lüttringhaus nach oben, Bernd!« kommandierte sie. »Das Bein muß geröntgt werde, und danach werden wir sehen, wie es mit ihm weitergehen kann. Wir versuchen, jemanden für die Operation aufzutreiben, und du kannst dann assistieren.«
Der junge Assistenzarzt machte sich eilig mit seinem Patienten auf den Weg. Der Tag würde kommen, an dem er derjenige war, der eine solche Operation durchführen mußte, und er zitterte bereits bei dem Gedanken daran. Aber noch war es zum Glück nicht soweit.
Julia atmete auf und zwang sich zur Ruhe. Es würde sich schon jemand finden für die Operation von Herrn Lüttringhaus, aber sie konnte nicht alle Probleme auf einmal lösen. Eins nach dem anderen, befahl sie sich wie immer, wenn der Streß drohte, zu groß zu werden. Das Wichtigste war jetzt, nicht die Übersicht zu verlieren.
»Kümmere dich um die Frau, Moni!« sagte sie nach einem prüfenden Blick. »Sie hat einen schweren Schock.«
Schwester Monika nickte. Sie wußte, was in diesem Fall zu tun war. »Kommen Sie bitte!« sagte sie ruhig und freundlich zu Stefanie Wagner, die ihr folgte wie eine Marionette.
Julia Martensen wandte sich an die Sanitäter. »Welche Informationen haben Sie denn für uns?«
»Die Frau heißt Stefanie Wagner. Sie hätte den Jungen fast überfahren«, lautete die Antwort, »deshalb steht sie unter Schock. Dr. Winter hatte Mühe, sie zum Aussteigen aus ihrem Auto zu bewegen, sie war wie erstarrt. Es ist etwas besser, seit er ihr gesagt hat, daß der Junge lebt. Sie hat gedacht, daß sie ihn getötet hat. Der Junge hat eine Gehirnerschütterung, Prellungen, wahrscheinlich keine inneren Verletzungen. Er hat auf Anweisung von Dr. Winter