Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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wollte eigentlich nicht über Sie reden, sondern über mich.«

      Das brachte ihn aus der Fassung. »Über Sie?« fragte er verblüfft. Und dann bekam er es mit der Angst zu tun. »Ist etwas passiert?« fragte er. »Fehlt Ihnen etwas?«

      »Mir fehlt schon etwas«, erklärte sie ernsthaft, »aber darüber wollte ich jetzt nicht sprechen. Ich wollte Ihnen erzählen, warum ich so plötzlich verschwunden bin.«

      Er schwieg, sah sie nur an. Sein Zorn auf die Welt war verflogen, er konzentrierte sich jetzt ganz auf die schöne junge Frau, die an seinem Bett saß.

      »Ich habe meinen Mann verlassen«, sagte sie ruhig. »Das hätte ich schon früher tun sollen, aber mir hat wohl der Mut gefehlt.« Und sie erzählte ihm die ganze Geschichte von ihrer überstürzten Flucht zu ihrer Tante, von ihrer Rückkehr nach Berlin und ihrem jetzigen Leben – und schließlich auch vom Schlaganfall ihres Mannes und dessen plötzlichem Friedensangebot.

      »Wenn er es sich nicht anders überlegt, sobald er wieder gesund ist«, schloß sie, »dann werden wir also bald in Frieden geschieden sein. Und ich werde ein neues Leben anfangen.«

      Er schloß die Augen, damit sie die Qual darin nicht lesen konnte. Sie würde frei sein und er ein Krüppel!

      »Wollen Sie gar nichts dazu sagen, Herr Tanner?« fragte sie.

      Er öffnete die Augen und antwortete mit einer Gegenfrage. »Warum haben Sie mir das erzählt?«

      »Das wissen Sie doch«, antwortete sie sanft.

      Er sah ihr in die Augen und las darin, was er immer gehofft hatte. »Das geht nicht!« sagte er gequält. »Ich bleibe vielleicht gelähmt, und…«

      Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern legte ihm eine Hand auf den Mund.

      »Nicht, John!« sagte sie. »Warum machen Sie es mir so schwer? Ich bin von Natur aus schüchtern, Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, dieses Gespräch zu führen.«

      Er hielt ihre Hand fest und zog sie zu sich heran. »Du liebst mich also wirklich?« fragte er. »Mareike, stimmt das? Du liebst mich?«

      »Ich liebe dich, seit ich dich kenne. Das hast du doch gewußt, oder?« flüsterte sie. »Glücklich bin ich in letzter Zeit nur gewesen, wenn ich mit dir zusammen ausgeritten bin.«

      »Und ich dachte immer, wir beide haben keine Chance«, sagte er heiser. »Und jetzt, wo wir vielleicht eine haben, da liege ich hier und…«

      Dieses Mal hinderte sie ihn mit einem Kuß am Weiterreden. »Ach, John«, sagte sie danach leise. »Ich hoffe sehr, daß du wieder wirst laufen können. Aber wenn nicht, dann werden wir auch damit fertig!«

      »Ich liebe dich, Mareike, aber ich kann doch eine junge schöne Frau nicht an mich binden, wenn ich nicht weiß, wie meine Zukunft aussieht.«

      »Das weiß niemand«, erklärte sie weise. »Es kann immer etwas passieren, das alle Pläne zunichte macht. Die Hauptsache ist doch erst einmal, daß wir uns lieben, oder? Alles andere findet sich dann schon.«

      »Du bist unglaublich«, sagte er leise und strich ihr über das blonde Haar. »Wenn du wüßtest, wie oft ich mir ausgemalt habe, dich in den Armen zu halten. Aber daß es dann schließlich in einem Krankenbett sein würde, darauf wäre ich niemals gekommen.«

      Erneut zog er sie an sich und küßte sie lange und zärtlich. Ganz allmählich legte sich der Groll in seinem Herzen, und er fing an, die Zukunft in freundlicherem Licht zu sehen.

      *

      »Langsam, langsam«, bat Adrian Winter seine temperamentvolle Schwester, die ihre Neuigkeiten förmlich heraussprudelte. »Ich bin sehr müde, das habe ich dir doch eben schon gesagt, ich brauche etwas länger, bis ich die ganze Geschichte verstehe. Du behauptest also, Frau Sandberg und Herr Tanner lieben sich?«

      Sie saßen in Adrians Wohnzimmer, denn Esther war ihm kurz entschlossen gefolgt, nachdem sie sich von Mareike Sandberg verabschiedet hatte.

      »Das behaupte ich nicht, das ist so!« sagte sie gekränkt. »Oder dachtest du, ich erzähle dir hier Klatschgeschichten?«

      »Und sie hat ihren Mann verlassen?«

      »Sag’ ich doch!« bekräftigte Esther. »Er muß ein widerlicher Typ sein nach allem, was man so hört. Sie sagt nichts darüber, weil sie eine sehr zurückhaltende Frau ist, aber allein, wie er mich am Telefon abgefertigt hat – das hättest du mal hören sollen.«

      »Ich kann auch nicht sagen, daß ich ihn sympathisch fand«, gestand Adrian. »Wir Mediziner sollen uns ja von solchen Gefühlen möglichst frei machen, aber bei ihm ist mir das sehr schwer gefallen. Warum hat sie ihn denn überhaupt geheiratet?«

      »Das weiß ich nicht«, antwortete seine Schwester. »Ich glaube auch nicht, daß sie es mir jemals erzählen wird.«

      »Merkwürdige Zufälle«, sagte Adrian. »John Tanner hat mich wirklich sehr beeindruckt, als ich ihn in dieser Kirche kennengelernt habe. So ein interessanter Mann! Und dann stellt sich heraus, daß du nicht nur ihn kennst, sondern auch die Frau, die er liebt. Und daß diese Frau mit einem anderen meiner Patienten verheiratet ist. Aber offenbar nicht mehr lange.«

      »Nein, und ich hoffe, Frau Sandberg und Herr Tanner werden sehr glücklich miteinander«, sagte Est­her. »Ich kenne niemanden, dem ich das mehr wünsche als ihnen.«

      »Es gibt keinerlei Veränderung seines Zustandes, Esther. Ihre Liebe wird es sehr schwer haben, wenn er gelähmt bleibt.«

      »Ja, das wird sie.« Esther wurde traurig. »Ist das nicht ungerecht? Nun ist sie ihren tyrannischen Gatten endlich los, und dann ist das neue Glück auch schon wieder getrübt.«

      »Noch nicht«, widersprach er. »Die Sache ist noch längst nicht sicher.«

      »Im Guten wie im Bösen nicht«, meinte sie. »Du kannst sagen, was du willst: Das ist ungerecht!«

      Dieses Mal widersprach er ihr nicht.

      *

      »Bitte, versuchen Sie jetzt, Ihren großen Zeh zu bewegen, Herr Tanner«, sagte der Neurologe, und John unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Wieder einmal die gleiche Prozedur, dachte er unwillig. Und wieder einmal das gleiche Ergebnis wie immer: keine Veränderung.

      Angestrengt versuchte er, den Zeh zu bewegen und zuckte unwillkürlich zusammen, als der Neurologe aufgeregt ausrief: »Noch einmal bitte!«

      Wieder versuchte er es und behielt den Zeh nun fest im Blick. Irrte er sich – oder hatte dieser sich tatsächlich ein bißchen bewegt? Ach was, das hatte er sich sicher nur eingebildet. Die Hoffnung, die ihn erfüllte, seit er wußte, daß Mareike ihn liebte, spielte ihm bestimmt einen Streich.

      »Großartig!« rief der Neurologe. »Er hat sich bewegt, Herr Tanner!«

      »Wirklich?« fragte John mißtrauisch. »Das muß aber sehr wenig gewesen sein, ich habe nichts gesehen. Und gespürt habe ich auch nichts!«

      »Dann machen Sie es noch einmal, und sehen Sie genau hin!«

      John strengte sich an, und dieses Mal konnte es keinen Zweifel geben. Sein Zeh hatte sich bewegt. »Was bedeutet das?« fragte er, und seine Stimme klang gepreßt.

      »Das bedeutet, daß die Lähmung zurückgeht«, strahlte der Neurologe. »Ich habe es Ihnen doch die ganze Zeit schon gesagt, daß Sie die Hoffnung nicht aufgeben sollen. Nun sehen Sie, daß Sie besser auf mich gehört hätten!«

      »Ist das auch wirklich wahr?« fragte John.

      »Ich meine, daß die Lähmung zurückgeht? Sie erzählen mir doch jetzt keine Märchen, oder, Herr Doktor?«

      »Ich?« rief der Neurologe. »Nie im Leben! Es ist die Wahrheit, Herr Tanner. Die reine Wahrheit.«

      In diesem Augenblick schrie John Tanner, so laut er konnte: »Mareike! Komm rein, Mareike, ich kann meinen Zeh bewegen!«