Aufregung in dieser Oase der Stille.
Oben am Tor war noch immer das Familienwappen mit den »Drei Freunden im Winter« Bambus, Winterpflaume und Kiefer, die den Widerstand gegen die Plagen des harten Klimas der Provinz Qingdao symbolisierten: Die Pflaume blüht, wenn der Boden noch schneebedeckt ist, die Kiefer gedeiht auf unfruchtbarer Erde, indem sie sich an die steilen Felswände anschmiegt, und der Bambus ist ein immergrünes Gewächs, das sich unter der Last der Schneedecke beugt.
Senzaki-Sung war überzeugt, dass der harte Winter für ihn vorüber war und die Zeit nahte, da er sich aufrichten und nie mehr vor den Herausforderungen in die Knie gehen würde. All die Fallen, in die er getappt war, hatte er sich nicht ausgesucht. Stets waren es Zwänge, deren Aufhebung keine Freude bringen konnte, denn er war nicht ihr Verursacher. Nun musste er sein eigener Herr sein.
Durch den frisch gestrichenen Zaun sah er auf der Terrasse ein Äffchen, das mit dem Säubern einer Frucht befasst war. Als Senzaki das Tor hinter sich zuzog, sah das Äffchen ihn kurz an, öffnete den Mund, wobei es komisch gestikulierte, ihn an die Hand nahm und hinter das Haus führte. Am Brunnen stand das Mädchen, fast noch ein Mädelchen und schüttete Wasser aus dem Brunnenkübel in einen Eimer. Auf das Geschrei des Affen hin sprach es zu ihm ohne sich umzudrehen.
»Was ist los, Kiki? Suchst du Gesellschaft?«
Daraufhin begann der Affe wie ein Beleidigter mit seinen langen Armen auf die Erde zu trommeln und wirbelte um sich herum Staub auf. Als Senzaki lauthals loslachte, zuckte das Mädchen zusammen und drehte sich schnell um. Senzaki versuchte etwas zu sagen, aber von dem Staub begann er zu husten und verschluckte sich. Ohne zu begreifen, was da vor sich ging, lächelte das Mädchen zunächst sanft und aufgeregt, und dann ließ es sein lautes Lachen erschallen. Umgehend nahm es vom Brunnenrand eine Tasse, schöpfte Wasser aus dem Eimer und brachte es dem Gast, der versuchte, Luft zu bekommen. Senzaki klopfte seine Kleider ab und stellte sich dem Mädchen vor.
»Ich bin Sung Shan, der in sein Heim zurückgekehrt ist, und ich bin so frei, schon im Hof zu lachen.«
Das Mädchen schwieg für einen Moment, wie um die Gedanken nach seinem wahren Namen zu durchforsten.
»Ich bin Chio und ich halte das Haus deiner Familie in Ordnung. Kung der Dorfälteste hat mir erlaubt, hier auch zu leben. Nun, nachdem du zurückgekehrt bist, werde ich einen anderen Platz suchen.«
»Nur keine Eile. Bleib noch ein bisschen hier, dann werden wir sehen, was weiter zu tun ist. Jetzt könntest du mir das Haus zeigen, als wäre ich sein Käufer und du der Besitzer, der sich nur ungern von ihm trennt.«
Senzaki war schon dabei, sich wegen seines ein wenig lockeren Benehmens gegenüber dem Mädchen zu tadeln, als dieses ihn bat, kurz auf der Bank im Hof zu warten, bis es etwas erledigt habe. Chio ging auf das Spiel ein. Er musste sich nicht bei ihr entschuldigen. Sie erschien vor ihm in einen gelben, festlichen Kimono gekleidet, mit gekämmtem und hochgebundenem Haar, in weißen Socken, die in Strohsandalen steckten. Sie sah derart verändert aus, dass Senzaki im ersten Moment dachte, vor ihm wäre eine neue Person erschienen. Sie war sehr schlank und gut gebaut. Sich ihrer Veränderung bewusst, doch zurückhaltend und ohne überflüssige Gebärden, mit denen sie seine Bewunderung zunichte machen würde, sah sie ihn an. Neben ihr stand Kiki, mit einem am Scheitel festgebundenen roten Band. Senzaki schmunzelte, und sie lud ihn, nachdem sie sich verneigt hatte, mit einer Handbewegung in Richtung Tür zur Besichtigung ein.
Das Haus war eingerichtet, als hätte es nie jemand verlassen. Alle nach dem Tod der Eltern aus Japan geschickten Dinge waren an ihren alten Plätzen. Sogar das Schwert des Vaters, ein Geschenk des chinesischen Kaisers der Herrscherdynastie als Zeichen des Dankes für die begangenen Taten, stand im Empfangszimmer, auf einem mit Gold eingefassten Holzgestell. Senzaki strich mit der Hand über das Schwert, nahm es aber nicht aus dem Gestell. Der verwunderte Blick des Mädchens forderte eine Erklärung.
»Ich habe mein ganzes bisheriges Leben dieser Waffe gewidmet, aber meine Hände werden sie nie mehr berühren.«
Die eisige Stimme, die dies aussprach, schien nicht Senzaki zu gehören. Auch er selbst war überrascht von der Schärfe seiner Worte, die ihm wie ein Gelübde vorkamen, das man gegenüber etwas ablegte, das einem überaus heilig war. Obwohl er Schwüre jeder Art, ganz gleich, an wen sie gerichtet waren, nicht mochte, verstand er diesen einen (falls es einer war); etwas Ähnliches hatte er auch damals ausgesprochen, als er dem Shogun gelobte, ihm ewig zu Diensten zu sein.
Aber wie sich anders vor einer solch nahen Vergangenheit schützen? Sie haftete noch immer an seinen Fersen. Es war unmöglich, sich ihrer leicht zu entledigen. Zum ersten Mal lief er vor sich selbst weg, und er konnte nicht wissen, bei welcher Gelegenheit er sich wie verhalten würde. Aber er hatte kein Recht, die bereits bestehende Ordnung in fremden Leben zu zerstören. Das Mädchen, das er in seinem Zuhause vorfand, konnte am allerwenigsten Kenntnis von seinem bisherigen Weg haben und es war das letzte, welches es verdient hatte, seine Verbitterung gegenüber Dingen zu hören, die es nicht einmal ahnen konnte. Er entschuldigte sich und überließ ihr die Führung durch das Haus, welches einst Eintracht und Sicherheit ausgeströmt hatte. Dieses Gefühl kehrte jetzt zu ihm zurück, dank der gut gespielten Rolle der fröhlichen Chio. Ihre charmanten Kommentare schienen ihn aus seiner Beklommenheit zu befreien; sie wirkte wie die echte Herrin eines Hauses, auf das sie stolz ist.
Als sie sich nach beendeter Besichtigung auf der Terrasse niederließen, sprach Senzaki zu ihr:
»Hab Dank für ein solch überzeugendes Spiel. Wäre ich ein echter Käufer, ich wäre hin- und hergerissen zwischen der Begeisterung für dieses Haus und der Trauer wegen der Hingabe seiner Hausherrin ihm gegenüber. Die richtige Entscheidung zu fällen wäre eine schwere Bürde.«
Insgeheim fragte er sich, ob sie jemals ein eigenes Zuhause hatte, das sie so liebte wie das hier. Chio sah ihn dankbar an, als hätte er für sie ein gutes Werk vollbracht und nicht umgekehrt.
»Ich spüre lediglich, dass du wegen großer Sorgen kommst. Aber falls du dich für das eigene Heim entschlossen haben solltest, dann muss es dir jemand als solches vorführen. Es wäre schlecht, sich von ihm loszusagen, bevor du dir nicht alles Schöne in Erinnerung gerufen hast, was dich mit ihm verbunden hat.«
»Aber ich sehe aus deinem Verhalten, dass auch dir dieses Zuhause gefällt. Oder stimmt das nicht?«
»Doch. Obwohl es nicht glücklich macht, wenn du nicht vollauf bereit bist, das Glück zu akzeptieren. Ich habe viele Leute gekannt, denen es nichts bedeutet hat, alles zu haben, denn sie haben gedacht, dass es immer noch mehr gibt, und dass das ihnen gehört. Sie waren unglücklich, denn sie haben das außerhalb ihrer selbst gesucht.«
Senzaki entgegnete nichts darauf. Er betrachtete sie neugierig. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass ihn ein Mädchen, auf das er beinahe zufällig getroffen war, an wichtige Wahrheiten erinnern sollte, derer er sich irgendwo unterwegs, viele Jahre zuvor, entledigt hatte.
X
Das unverhoffte Zusammentreffen mit dem Rōshi hatte mich gehörig verwirrt. Es hatte sich zu einem Zeitpunkt ereignet, als ich keine Rechtfertigung mehr dafür sah, in Dabu-ji zu sein. Jetzt aber hatte sich alles im Nu verändert. Er hatte Lösungen von mir verlangt, über die ich nicht verfügte. Er hatte mir gesagt, ich könne zu ihm kommen, wann ich wolle, dann aber angeordnet, dies habe gewissermaßen sofort zu geschehen. Vielleicht wollte er seine Anordnung ja mit meinem Wunsch in Einklang bringen, ihn endlich zu sehen! Und dann noch seine Bemerkung über mein Meditieren im Gehen! Ich war mir sicher, er wusste, dass ich nur spazieren ging und nichts weiter. Bin ich so naiv oder weiß er so viel? Als ich mich das fragte, ärgerte ich mich, dass ich mir überhaupt so viele Fragen stellte. Auch ohne dass es mir jemand sagte, wusste ich, dass mir deshalb noch nichts gelang, weil ich so ungeduldig und neugierig war und alles, was ich sah, tat und hörte, zu analysieren suchte. Eigentlich zweifelte ich so sehr an mir selbst, dass es schon unerträglich wurde.
Ich tröstete mich damit, dass das Hinterfragen aller Dinge dennoch zu etwas gut war: Ich wurde mir meiner Fehler bewusst. Bevor ich hierherkam, hatte ich mich zwar an einer Art Scheideweg befunden, war aber nicht so tief gesunken, um wegen Mittellosigkeit oder der Hoffnung