Löcher gähnen …
Am Morgen ließ der Polizeidirektor die Wachen an den zwei Revieren von Ju. verdoppeln und ergriff zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in der gesamten Stadt, indem er zum Beispiel die Polizeistunde auf abends halb sieben vorverlegte. Trotz fieberhafter Fahndung – die Terroristen und ihre motorisierten Helfershelfer blieben spurlos verschwunden.
Und o weh! – dieser Überfall war nur der Auftakt in einer Kette blutiger Vorkommnisse, die Ju. und Umgebung über mehrere Tage in Atem hielt. Ein Wiederausbruch der Bösartigkeit, wie Todor Peow es in der Freien Tribüne nannte, in Gestalt mehrerer Attentate, viehischer Morde an Feldhütern und Milizionären, tückischer Raubzüge, Übergriffe auf Privatbesitz, erbarmungsloser Heckenschießereien.
Am Nachmittag des 14. September wurde der Ex-Reviervorsteher Baldakow entführt. Noch am selben Tag ging bei der Polizei ein grob mit bespucktem Kopierstift geschriebenes Bekennerschreiben ein, worin eine bis dato unbekannte Gruppe für die Weltrevolution zum einen ihr Programm verkündete (das natürlich im Kampf gegen den Weltkapitalismus bis zu seiner völligen Vernichtung und zum totalen Sieg über jedwede Form von Staatsmacht bestand) und zum anderen mitteilte, sie habe Baldakow als Kriegsgefangenen in ihre Gewalt gebracht und werde ihn einem Volkstribunal übergeben. Wobei am Ende doch der Vorschlag erging, ihn gegen ein paar der am 12. September in Haft genommenen KP-Mitglieder auszutauschen oder aber durch ein Lösegeld mit vielen glänzenden Nullen freizukaufen.
Die Antwort der Obrigkeit, für die eigens ein Plakat gedruckt wurde, war schroff: Sie lehnte selbst Verhandlungen mit den Terroristen ab, forderte die bedingungslose Herausgabe Baldakows (der, wie betont wurde, für seine Machenschaften vom letzten Frühjahr einem legalen Gericht Rede und Antwort stehen werde) und drohte den Entführern im Falle der Nichterfüllung mit der unweigerlichen Todesstrafe. Im Ergebnis dessen wurde am frühen Morgen des 17. September der Leichnam des Ex-Reviervorstehers gefunden: durchsiebt und zerrissen von schweren Kugeln, abgelegt vor der Schwelle des Rathauses zwischen den zwei eisernen Kriegern.
In einer der Taschen seiner blut- und schlammbesudelten Jacke fand sich ein Brief, unterschrieben mit vorzüglicher Hochachtung vom Wirtschaftsexperten Konstantin D. Spissarewski. Darin gab der bekannte Gelehrte die Erklärung ab, er sei von Herrn Baldakow weder im Verlaufe der Wahlkampagne im Frühjahr 1923 noch bei anderer Gelegenheit verprügelt worden; zwar habe Herr Baldakow ihn, Spissarewski, tatsächlich zum Verlassen der Stadt K. (heute Ju.) genötigt, dies jedoch mit aller, der Situation wie auch seinem Rang angemessenen Ehrfurcht und Zurückhaltung, und überhaupt lege er Wert darauf, dem verehrten Redakteur der Freien Tribüne bezüglich der auf den Seiten dieser Zeitung veröffentlichten unzutreffenden Gerüchte, Beschimpfungen und Beschuldigungen gegen Herrn Baldakow die wahren Sachverhalte zu erläutern.
Am selben Tag wurde ein Transportauto der Post überfallen, ausgeraubt und abgefackelt. In dem Moment, da es im Staub eines Feldwegs in Flammen aufging, flog auch die Pontonbrücke gegenüber dem Schlachthof in die Luft und es wurden drei Dorfbürgermeister mit Dum-Dum-Geschossen hingerichtet. Im Zentrum von Ju. wurde das Haus von Sotir Kamburow in Brand gesteckt, und eine mächtige Sprengladung riss die Klinkermauer des Gymnasiums nieder.
All dies geschah um Punkt acht Uhr.
Das schlüssigste Indiz aber, dass nur die kommunistische Partei und ihrer blutrünstige Guerilla hinter alledem stehen konnten, lieferte die sinnlose Sprengung der Kapelle des Propheten Elias. Auch sie geschah an jenem schwülen Morgen des 17. September und trug dieselbe Handschrift blinder Rachsucht: An dem Kirchlein, das jahrhundertelang Stürmen, Erdbeben und anderen Fährnissen getrotzt hatte, blieb kein Stein auf dem anderen.
Umgehend bekamen Polizei und Gendarmerie Verstärkung durch das legendäre Siebenunddreißigste Piriner Infanteriebataillon sowie Teile des im Lager hinter den Gleisen bereitstehenden soundsovielzwanzigsten Regiments und vereinten sich zu einer gemeinsamen, entschlossenen Aktion, die letztlich erfolgreich war. Systematisch durchkämmten sie die ganze Stadt, Haus für Haus, Hof für Hof, Keller für Keller, kehrten überall das Unterste zuoberst, um anschließend einem Wirbelsturm gleich in drei Richtungen – nach Süden, Norden und Westen – ins bergige Gelände auszuschwärmen.
Unbarmherzig, schweigend und verbissen rückten sie vor, schossen ohne jede Vorwarnung auf jeden, der ihnen verdächtig vorkam, und legten am nächsten Tag gegen Abend auf dem Coburg-Platz ein Dutzend zerschossener, bis zur Unkenntlichkeit zugerichteter Leichname von Illegalen ab – wie das erlegte Wild nach dem Halali.
Erst spät am Abend schien es der schlaflos zitternden Stadt so, als hätte die wilde Schießerei aufgehört. Doch schon gegen Mitternacht ging es wieder los, diesmal aus der Richtung des Zeppelin-Hangars, verschärfte sich, verschmolz zu einem einzigen, anhaltenden Dröhnen … bis plötzlich Stille eintrat.
Am Morgen des 19. September 1923 sollte Ju. dann erfahren, dass sich just in diesem verlassenen und vergessenen, still vor sich hinrostenden Bau mit dem Stacheldraht darumher über Wochen der heimliche Stab der Terroristen befunden hatte. Gegen halb sieben lenkten Soldaten ein, von zwei Huzulenpferden abgeschlepptes, Automobil durch die Stadt – vermutlich jenes, mit dessen Hilfe die vier Attentäter geflüchtet waren. Jetzt war es zerbeult und zerlöchert, mit gebrochenen Speichen. Es folgten drei vollbeladene Trosswagen mit Beweismaterial, das man im Hangar beschlagnahmt hatte: haufenweise gute Waffen, Sprengstoff, Detonatoren, Rollen Zündschnüre, Patronenkisten und Kästen mit Stielhandgranaten, außerdem Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter und Pakete unbedrucktes Papier, Schreibmaschinen vom Typ Rheinmetall und Continental, Dutzende Signaltaschenlampen, säckeweise Trockenbatterien zur Reserve, große Scheinwerfer französischer Produktion (Kriegsbeute!), Gold und Silber, schwerer Schmuck aus Schmiedeeisen und Juwelen, bulgarische Lewa, türkische Lira, griechische Drachmen und – als Krönung – Fahnenstoff, in Schwarz und in Rot.
Zwei weitere Leichen wurden mitgeführt und abgelegt. Später identifizierte man sie: Der seit dem August verschollene Jugendliche Lasar Minkow war der eine. Der andere war – wiewohl in Hemd und Hosen – eine Frau. Nämlich jenes Mädchen aus dem Ferienpensionat der Katholischen Schule, von dem man erzählte, dass es dem Minister aufs Zimmer geschickt worden war.
So also war das. Von dem Tag an herrschte in Ju. wieder Grabesruhe, von bösen Vorahnungen erfüllt. Die Leute hockten reglos in ihren verdunkelten Häusern, trauten sich nicht auf die Straße, der Handel kam schnell zum Erliegen, die Zeile lag so still, wie man es noch nie erlebt hatte. Soldaten waren so ziemlich die Einzigen, denen man auf den Straßen begegnete. Mit besorgtem Blick schauten sie unter ihren Helmen hervor und musterten jeden Passanten, ehe sie weitergingen.
Ihre aufgepflanzten Bajonette blinkten im Licht der untergehenden Sonne.
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