wurde; manche kauten Kiefernharz, andere Lakritze. Letzteres Wort, auf besondere Art ausgesprochen, brachte Halbwüchsige regelmäßig zum Tuscheln und Kichern … So hatten alle ihren Spaß.
Von Sofia kamen per Bahn und Automobil zahlreiche Persönlichkeiten gereist, denen eine Schar Journalisten mit breitkrempigen Panamahüten nicht von der Seite wich. So fand bereits am Vormittag des ersten Tages auf dem Coburg-Platz ein Dankgottesdienst statt und am Abend dann die öffentliche Versammlung vor großem Publikum in der Lesehalle, auf der der Erlass des Königs über die Umbenennung verlesen wurde, wonach der ganze Saal sich erhob und Es rauscht die Mariza sang. Anschließend wurde eine lange, konfuse Grußadresse verlesen, die die persönliche Unterschrift von Ministerpräsident Prof. Zankow trug. Von Prosperität, Wirtschaftswachstum und Volksbildung war irgendwie die Rede. Im weiteren nahmen noch Dutzende Redner das Wort: Wichtige Politiker sprachen zur Bevölkerung in enthusiastischen Worten von der Befriedung des Königreiches, vom Zusammenschluss der Parteien zur Demokratischen Eintracht36 und von der brutalen Korruption während der Herrschaft der Bauernpartei, sodann erinnerten sie an die Ereignisse von Tarnowo37 vor genau einem Jahr und an den vorgeblichen Umsturzversuch des Baron v. Wrangel38; schließlich kamen bärtige Gelehrte aus Sofia und Plowdiw an die Reihe, die K. noch einmal als türkischen Namen abstempelten und Ju. als bulgarischen priesen. Hingebungsvoll predigten sie vom Katheder seine Rechtmäßigkeit, wofür sie viele unwiderlegbare Beispiele ausgruben und einander darin übertrafen, immer weiter in die Vergangenheit des Vaterlandes zurückzugreifen, drei Reiche durchmessend, bis sie am Ende, keiner wusste wie und wozu, an jenem historischen Moment herauskamen, da Khan Krum den Becher aus Kaiser Nikephoros’ Schädel an die Lippen setzte39 und rief: Wohl bekomms, ihr Recken! Jedenfalls war es langer Rede kurzer Sinn, dass es so war, wie sie sagten: dass K. ein türkischer, rückwärtsgewandter Name und Ju. ein urbulgarischer Name sei für eine bulgarische Stadt, K. etwas Nichtswürdiges, Nichtssagendes, Ju. hingegen so klangvoll und edel, wie das Lied der Bulgaren auf angestammten Boden allzeit gewesen.
Von der Versammlung weg ging man zuerst die Nachtübung der Feuerwehr inspizieren und von da zum Staatsbankett, das der Rat der Stadt zwischen geschliffenen Spiegeln, Kristall, Palmen, Plüsch und rotem Samt, zu den Klängen des Pilsener Salonorchesters und dieses etwas später abgelöst vom dröhnenden deutschen Jazz, kurz: im Neu-Amerika ausrichtete. Die Tische waren zu einem großen Quadrat gestellt, in dessen Mitte eine stattliche Kübelpalme stand. Sage und schreibe siebenundachtzig Toasts wurden im Verlaufe des Abends ausgebracht – der eine auf die bestehende Ordnung und das erblühende Königreich, der nächste auf den Fortschritt, den Frieden, das Volkswohl, wieder andere auf den sagenhaften Elan und die kühnsten Träume der Industrie von heute, den freien bulgarischen Handel, das für ganz Europa beispielhaft grenzenlose Unternehmertum und so weiter, und so fort. Draußen tobte der Karneval, riefen Trompeten und Schalltrichter ins Chapiteau des Zirkus Krone, und noch in tiefer Nacht flitzten die Journalisten zum Post- und Telegraphenamt, um den Zeitungsredaktionen ausführliche Reportagen vom ersten Tag des Ereignisses zu übermitteln, inklusive der genauen Anzahl der Gäste – und natürlich waren sie es, die die Toasts im Neu-Amerika mitgezählt hatten: siebenundachtzig an der Zahl!
Am zweiten Festtag traf es sich (wie abgesprochen – war es aber nicht!), dass aus dem fernen England der neue Gasmotor für die Mühle der Produktionsgenossenschaft Fortschritt eintraf. Blumengeschmückt und behangen mit den Porträts namhafter Verfechter des Genossenschaftswesens wie Hermann Schulze-Delitzsch, Ferdinand Lassalle, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Luigi Luzzatti, Eduard Anselm, Ann Isabelle Milbank (bekannt als Lady Byron) und Gevatter Pawel Christow aus dem Dorf Mirkowo (einer der Gründungsväter der ersten Genossenschaft im Königreich Bulgarien Oralo), wurde der Motor von den Genossenschaftlern eigenhändig vom Bahnhof zum Klinkergebäude der Mühle getragen, wofür die ganze jubilierende Stadt zu durchqueren war. Eine hochgestimmte Menge folgte den Männern; darin sah man auch die Panamahüte der unermüdlichen Hauptstadtjournaille umherhuschen, die hinterher hervorhebenswert fand (und die Zeitungen setzten es in kursive Schönschrift), dass der Motor nagelneu war, direkt aus der Fabrik Ruston & Hornsby Ltd. in Stockport/Liverpool geliefert, wie in schwarzen Druckbuchstaben auf der Kiste aus hellem, duftendem Fichtenholz zu lesen stand, und abgewickelt worden war die Lieferung durch das gut beleumdete Anglo-Amerikanische Handels- und Industriemuseum Iwan Kurtew & Co., Stara Sagora.
Das Dreitagefest der Gastlichkeit von Ju. begann am 7. und endete in wohliger Erschöpfung der Allgemeinheit am 9. September 1923.
Letzterer fiel auf einen Sonntag.
An den neuen Namen ihrer Stadt hatten die Leute sich da noch nicht gewöhnt und versprachen sich in einem fort, sagten aus alter Gewohnheit K., anstatt richtigerweise Ju. zu sagen, aber das war alles eine Frage der Zeit.
So war das.
9
Neue Unruhewelle
VERSAMMLUNG VON KOMMUNISTEN UND ANARCHISTEN • ORDNUNG WIEDERHERGESTELLT • ERKLÄRUNG DES GARNISONSKOMMANDANTEN
KOMMUNISTEN UND BAUERNBÜNDLER VERHAFTET
AUFWIEGLERISCHE FLUGBLäTTER • VERHAFTUNGEN ERFOLGTEN OHNE GEGENWEHR • STADT UND LANDKREIS WIEDER FRIEDLICH!
VERHAFTUNGEN IN SOFIA!
KABAKTSCHIEW FESTGESETZT – Der Alte unter Hausarrest gestellt. Wie ist sein Gesundheitszustand? – In Sofia wird gestreikt! (Von unserem Sofioter Korrespondenten am 12. d. Monats)
In all der Hochstimmung und Freude über den eingetretenen sozialen Frieden war es um so unangenehmer, dass am Montag, dem 10. September, vorgeblich aus Anlass irgendeines internationalen Tages der Jugend, die Milchbärte von der Komsomolorganisation Roter Tag in einem nahegelegenen Dorf ein sogenanntes Massenmeeting veranstalteten. Mit Kundgebung, Rote-Fahnen-Schwenken und so weiter, wobei sich zuletzt gar noch ein Dutzend Anarchokommunisten mit ihren schwarz-roten Fahnen zugesellten. Das eine so wenig wie das andere und nichts dergleichen war von den örtlichen Organen genehmigt worden, weshalb der Ortsbürgermeister umgehend zum Hörer griff, den Vorfall aufgeregt weitermeldete und Hilfe aus Ju. anforderte.
Sogleich entsandte Ju. ein paar schlagkräftige Kavallerieeinheiten aus dem hier ansässigen heldenhaften x-undzwanzigsten Regiment, verstärkt durch Patrouillen der berüchtigten Vierten Gendarmerie zu Pferde.
Im Dorf eintreffend, umzingeln sie erst einmal den Platz, und die Jungkommunisten und -anarchisten werden gebeten, nach Hause zu gehen, man macht sie darauf aufmerksam, dass eine Aktion wie die ihre in jedem Fall vorher polizeilich genehmigen zu lassen sei. Eine solche Genehmigung liege nicht vor! Der Tag der Jugend ist international anerkannt, wenden die Jugendlichen ein, um ihn zu begehen, braucht es keine Genehmigung! – worauf erwidert wird: Stellt euch nicht blöd, der Tag der Jugend ist am zweiten September und längst vorbei, das wisst ihr doch genau. Ferner wird darauf verwiesen, dass sich, wie jeder sehen könne, nicht nur die Dorfjugend hier versammelt habe, sondern der ganze Nordosten des Landkreises, was schon mal erst recht verboten sei. Und sogar gänzlich fremde Personen seien darunter, hier greife schon das Gesetz zur Verfolgung des Räuberunwesens! All das wird festgehalten und hinzugefügt, man wolle auch hiervor ein Auge zudrücken, rufe die Manifestanten aber nochmals zu Friedfertigkeit und gesundem Menschenverstand auf. Die wollen sich den Aufruf jedoch partout nicht zu Herzen nehmen, stimmen im Gegenteil provokative Hymnen an wie zum Beispiel die Internationale und Sonstiges dieser Art. Ihr Anführer, jung an Jahren, doch als gefährlicher, lodernder Kommunist aktenkundig, schüttelt sein struppiges schwarzes Haar und singt am lautesten, wobei er den Soldaten herausfordernd ins Gesicht blickt.
Die Warnung wird ein drittes Mal ausgesprochen: Geht friedlich auseinander! Sie wird auch diesmal in den Wind geschlagen. Also ergeht an die Truppe das Kommando zum Eingreifen.
Diese rückt von allen Seiten gegen