die ganze Welt würde in diesen Krieg hineingezogen werden – letztlich also ein Weltkrieg. Schwere Auseinandersetzungen zwischen weißer und gelber Rasse wären die Folge – um am Ende zu wissen, wer die Hegemonie über die verbrannte Erde übernähme.
All dies hatte R. Nesterow Anfang März im Restaurant des Alt-Europa zum Besten gegeben, das mittlerweile renoviert und in Neu-Amerika umbenannt war.
Also lasst uns, sprach er, zu Wein und Weib greifen und uns des Lebens freuen. Was morgen sein wird, kann man nicht wissen! Denn die Zeit, sie fliegt, und nachts, da heult sie, dass es zum Fürchten ist!
Unglückliches K., im Guten und im Bösen, in jedwedem Leid, in Kriegen, Revolutionen, weltumspannenden Kataklysmen und andauerndem Diebstahl von Viehzeug aus privater Hand – Gott behüte dich, du meine liebe Stadt!
Die Leute hörten sich an, was Nesterow zu sagen hatte, und wollten es als Ammenmärchen verbuchen. Er aber grinste nur und bestand nicht darauf; na, wir werden ja sehen … Wer wird denn Angst vor einer Jahreszahl haben, brummelten die Leute unsicher, darauf er wieder nur: Warten wirs ab. Aber dann fiel den Leuten ein, dass es ja schon gut los gegangen war, man denke nur an die Überschwemmungen, und sie verstummten betroffen …
Worauf Nesterow, als er sah, dass er die Leute am Ende doch beeindruckt und verunsichert hatte, in ein bemüht spöttisches Lachen ausbrach.
Von Haus aus war er tatsächlich Mediziner und das Niveau seiner Wissenschaft gewiss außerordentlich. Er hatte es faustdick hinter den Ohren, so dass sein höchst sensationeller psychowissenschaftlicher Abend zweimal hintereinander (und noch einmal in der volkstümlichen Variante vor den Schülern des Gemischten Pädagogischen Gymnasiums) zur Aufführung gebracht werden musste. Auf dem Programm stand erstens ein Referat zu psychischen Phänomenen und ihrer Nutzanwendung zur Heilung nervöser Leiden ohne organische Ursache und zweitens ein experimenteller Teil. Die Experimente waren mnemotechnischer Natur (oder anders gesagt, drehten sie sich um die Frage, wie und durch welche Regeln und Verfahrensweisen wir lernen, nichts zu vergessen, respektive wie wir unser Zahlen- und Faktengedächtnis stärken und für die Aufbewahrung von Wissen, von dem wir nicht wissen, ob und wann es noch einmal gebraucht wird, sorgen können). Ferner gab es Experimente zum westeuropäischen Fakirismus sowie zu Hypnose und Katalepsie von Mensch und Tier. So hypnotisierte er zum Beispiel einen Schüler und heilte ihn so von seinem Stotterleiden, andere wieder vom Tabakgenuss.
All dies ereignete sich im Monat März, wie gesagt. Vortrag und Experimente wurden vor überfülltem Saal abgehalten; und auch zur zweiten Seance strömte das Volk von nah und fern, so dass die, die in der Umgebung der Lesehalle wohnten, noch zusätzliche Stühle herbeischaffen mussten. Und alles spannte darauf, die Fähigkeiten des Hypnotiseurs ein weiteres Mal zu erleben und sich in fremde, obskure Wissenschaften einführen zu lassen.
Einzig die anarchistische Jugend störte während der Vorführungen die Ordnung im Saal, indem sie den Referenten auspfiffen, sich gar erhoben und ihn beschimpften. Diese Experimente seien ein schwerwiegender Übergriff auf die menschliche Persönlichkeit, der freie Wille werde mit Füßen getreten, ihm werde Gewalt angetan, so äußerten sie sich, bis ringsum Leute aufsprangen und sie aus dem Saal warfen. Ach ja, diese Bürschchen, gab ihnen Nesterow liebenswürdig das Geleit, sie sehen in Rebellion, Unmutsäußerungen, Rüpelhaftigkeit und Waffengebrauch ihre einzige Zuständigkeit; das ist bedauerlich, verehrtes Publikum, äußerst bedauerlich, wenn wir uns vor Augen halten, wie viel Energie, Klugheit und Wagemut doch in ihnen steckt. Klugheit, na, das möchte man bezweifeln, hieß es dazu aus dem Saal, und es erging der Wunsch, den Vortrag fortzuführen. Alles in allem ging es also einigermaßen nett und friedfertig zu während der Veranstaltungen – warum nur musste es diesem Nesterow hinterher im roten Restaurant vom Alt-Europa noch einfallen, von den Prophezeiungen der Mimosa Tako-Shima zu erzählen und dabei billigen Schnaps zu trinken, zwo fünfzig die Flasche, und dabei war er alles andere als arm! Meine Herren! Er hatte Geld, viel Geld sogar, trank aber trotzdem den Schnaps zu zwo fünfzig, betrank sich wüst und hemmungslos. Und dem nicht genug, ließ er sich auch noch hinreißen, diese fünf jungen Hüpfer anzumachen (die größten Früchtchen der Schule!), wo man sich fragt, was sie zu so später Stunde in dem Restaurant zu suchen hatten, nachdem sie sich übrigens schon während des Vortrags herausfordernd und albern benommen und zur Genüge ins Händchen gekichert hatten … Das war Nesterow nicht entgangen, Maminkolew ebensowenig! Und überhaupt, wenn der Direktor an all die Eskapaden und Unannehmlichkeiten im Anschluss an Nesterows Märzvorlesung dachte, verzog er sich jetzt doch lieber schleunigst auf seinen Weinberg. Der kann mich mal!, murmelte er inbrünstig vor sich hin. Auf Psychosen und Metaphysik habe ich nicht die geringste Lust, und wenn er dem lieben Gott leibhaftig in die Suppe gespuckt hat. Basta! Ich verdufte, meine Herren! Soll ihm um den Bart gehen, wems beliebt, ich für meinen Teil will diese Geschichten nicht noch mal hören!
Sprachs und zog Leine, verdrückte sich in das Hüttchen auf seinem Weinberg.
Wo man am Freitag seine Leiche fand.
Mit Dum-dum-Kugeln zwischen die Brauen geschossen von Unbekannt. Der Kopf zu Matsch. Die Wand mit Hirn und Blut bespritzt, dem weit offenstehenden Fenster gegenüber.
Der Staatsanwalt vom Kreisgericht und ein zuständiger Kriminalbeamter eilten unverzüglich zum Tatort, doch so gründlich sie ihn auch untersuchten, sie konnten keine Spuren des Mörders entdecken. Allerdings fand sich in der Hand des Toten ein zerknüllter Zettel, darauf ein unvollständiger Satz: An den Herrn Polizeidirektor, am Ort. Ich, endesunterzeichneter Stojan Maminkolew, möchte Sie davon unterrichten, dass heute auf meinem Weinberg … – hier brach der Text ab. Der Staatsanwalt und sein ermittelnder Kollege schnaubten verdrossen und sahen sich ein letztes Mal um, bevor sie das Hüttchen mit bestempelten weißen Papierstreifen versiegelten, die Wachleute mit einem Wink nach Hause schickten, die Kutsche bestiegen und von dannen fuhren.
Ringsum war alles still und öde, nur der Zeppelinhangar lag grau in der Ebene.
7
Blutvergießen im Weinberg
GYMNASIALDIREKTOR ERSCHOSSEN • MÖRDER UNBEKANNT • POLIZEI IM KREIS MELDET PERSONALBEDARF AN • WO WAR ZUM TATZEITPUNKT DER WEINHÜTER?
DIE FLUCHT DES INSPEKTORS
Trug brisantes Material über Räuber und Terroristen bei sich: Wer ist Dimo Iwtschew aus Stara Zagora? – Inspektor erlag seinen Verletzungen
Bäckerstreik abgebrochen
Verhaftungen: Haftbefehl gegen Oberstleutnant D.! Kaution gezahlt. Bürger von K. erleichtert.
Anarchisten ergeben sich: Geständnisse zum 26. März
Neue Einzelheiten im Selbstmordfall Kurusanow:
Freiwilliger hatte Verbindungen zu kommunistischer Organisation!
BESCHLUSS DER STADTVERWALTUNG: Diesjährige Herbstmessen finden statt! Termine bleiben aufgrund der entspannten Lage bestehen
Unmittelbar nach dieser grausamen Tat wurde überall in der Stadt eine hektographierte Mitteilung ausgehängt, worin die Aufstockung des Personalbestands der Polizei verkündet wurde. Gleichzeitig wurde die Bekanntmachung in der Freien Tribüne abgedruckt und außerdem in größerem Format plakatiert. Die Wachtruppe sollte nunmehr siebenundachtzig anstelle von sechsundsechzig Mann umfassen (ein Polizeidirektor und zwei Reviervorsteher, zehn Wachtmeister zu Fuß und vier berittene sowie insgesamt siebzig Schutzleute zu Fuß und zu Pferde), deren Gehalt man zu verdoppeln versprach. Das ergab ein gutes Geld! Für dieses ungewöhnlich hohe Salär mussten die Gendarmen aber mindestens ein Jahr Schulbildung nachweisen. Außerdem wurde Wert darauf gelegt, dass die Kandidaten nicht vorbestraft und moralisch unverdächtig waren. Besonders Letzteres erschien in Anbetracht jüngster Vorfälle dringend geboten. So hatte sich zum Beispiel eine abendliche Streifenbesetzung