Christo Karastojanow

Teufelszwirn


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sowie an die Girdap-, die Ökonomia- und die Thrakia-Bank, auf den Bahnhof und überallhin. Wie sich indes herausstellte, war das Plakat ausverkauft, offenbar hatten es die Bürger der Stadt in Massen erworben, um damit, insonderheit zu propagandistischen Zwecken, ihre Häuser zu schmücken. So jedenfalls erklärte es Buchhändler Pulew, fügte jedoch hinzu, dass eine Nachlieferung à 1 000 Exemplare geordert und jeden Moment zu erwarten sei.

      Übrigens kam Dimo Kasassow mit seiner Draisine zunächst durch Sliwen, bog aber dann nach Sliwniza ab und landete in Jambol, wo er über Nacht blieb – nach K. kam er gar nicht! Statt dessen wurden Plakate geklebt für eine Sondervorstellung der Sofioter Trommel21; vor der nach Zerstreuung dürstenden Bürgerschaft von K. sollte die kurzweilige, politisch durchaus brisante satirische Komödie Stambolijski im Himmel von Borju Sewseka22 zur Aufführung kommen. Aber auch diese Truppe blieb letztendlich fern, weil ihr Agent erstens den morschen, staubigen und überhaupt lebensgefährlichen Bühnenraum der Lesehalle für unzumutbar befand und zweitens von den Räubern gehört hatte. Alle Welt fürchtete sich vor diesen Räubern! Und da nun auch die Trommel abgesagt hatte, kündigte sich der berühmte russische Professor Janischewski, Experte für Nervenleiden von der Sofioter Medizinischen Fakultät, mit einem Vortrag zum Thema Angst und Tapferkeit an. Mit dieser interessanten Abhandlung bereiste der Mann im Sommer 1923 in Begleitung des Journalisten Borox Warnawski, der alles aufschrieb, was der Professor von sich gab, das ganze Land, und die Eintrittsgelder wurden zur Unterstützung der russischen Schriftsteller und Journalisten verwandt, deren Situation infolge der das Blut in den Adern dieser Unglücklichen gefrieren lassenden satanischen neuen Ordnung äußerst beklagenswert war. Hat der nichts Besseres zu verkünden?, dachte der Bürgermeister verwirrt und enttäuscht: Tapferkeit, schön und gut, aber wozu über die Angst ein Wort verlieren?

      Nach reiflicher Überlegung wies er dennoch den Gymnasialdirektor an, diesen Herrn Professor zu begrüßen und ihm Gesellschaft zu leisten, solange er in K. war. Vor Freude bebend, lief der Direktor los, den Auftrag zu erfüllen. Nur dass im letzten Moment alles wieder anders kam und nicht, wie angekündigt, Professor Janischewski eintraf, sondern der vortragende Arzt und Hypnotiseur R. Nesterow, den man in K. schon zur Genüge kannte! Hatte er doch erst im Frühjahr hier gastiert, und hinterher gab es böses Blut hinsichtlich angeblicher Frivolitäten in Bezug auf fünf Schülerinnen, darunter zwei Waisen aus dem katholischen Pensionat. Diese Gerüchte pflanzten sich in der breiten Bevölkerung fort und ließen Zweifel laut werden. Auch wenn man nichts Genaues wusste, der Schatten der Kompromittierung legte sich über die Lehrerschaft von K., es bedurfte einer Gegendarstellung in der Freien Tribüne, die die Zweifel natürlich nur verstärkte.

      Die Mädchen entstammten den oberen Klassen, waren also nach dem 26. März ohnehin alle nach Burgas entschwebt, die Gerüchte allmählich verebbt. Nun aber, wenn sich herumsprach, dass Nesterow in der Stadt war, würden sie in null Komma nichts wieder aufleben. Überhaupt soll diesen Nesterow der Teufel holen, dachte der Schuldirektor stöhnend: Der hat uns noch gefehlt! Der Direktor hieß übrigens Stojan Maminkolew und hatte seinen Vorgänger Christofor Milew gerade abgelöst. Stojan Maminkolew zauderte, schwankte, dann winkte er entschlossen ab und ging einfach weg, verzog sich auf seinen Weinberg.

      Tatsächlich war der vortragende Hypnotiseur R. Nesterow erstmals Anfang März 1923 nach K. gekommen und hatte die Legende von den wundersamen Prophezeiungen der Japanerin Mimosa Tako-Shima mitgebracht. Diese Frau habe vor Jahren den Untergang der russischen Armee im Russisch-Japanischen Krieg geweissagt. Während dieses Krieges habe Tako-Shima einen gefangenen russischen Offizier geheiratet. Im Jahr 1916 dann, bei einem ihrer öffentlichen Auftritte, sei Mimosa Tako-Shima plötzlich mit einem Seufzer umgefallen und Augenblicke später tot gewesen. Die Todesursache blieb im Dunkeln … Allerdings, so Nesterow, fanden sich zwischen den Papieren in ihrem Nachlass Prophezeiungen für etliche Jahre im voraus! Und was das Interessanteste war: Alle für den Zeitraum bis 1922 getroffenen Voraussagen trafen verblüffend exakt ein – bis hin zu den betrüblichen Jekaterinburger Anschlägen auf den Zaren und seine Angehörigen (die in Tako-Shimas Papier namentlich aufgeführt waren). Die Morde geschahen wahrhaftig, selbst die Zeitpunkte stimmten überein. Auch vorausgehende oder nachfolgende Attentate und wie sie ausgingen, habe Tako-Shima auf das Genaueste vorausgesagt.

      Und nun begab es sich Ende 1922, dass die in Riga erscheinende Zeitung Der Leuchtturm sich auf unklaren Wegen des Manuskripts bemächtigte, in welchem die Prophezeiungen der Japanerin für das Jahr 1923 festgehalten waren, und diese abdruckte – genauer gesagt, einen kleinen Teil davon, der aber mehr als genug Schrecknisse in sich barg.

      So zum Beispiel schrieb Frau Mimosa Tako-Shima, das Jahr 1923 werde als ein denkbar blutiges in die Geschichte eingehen, den Auftakt geben zu einer ganzen Reihe neuer Kriege, die nicht nur Westeuropa, sondern auch Amerika mitsamt den Vereinigten Staaten und Asien erfassen würden. In Deutschland und Polen sei mit neuen revolutionären Bewegungen zu rechnen; dabei werde in Deutschland eine nationalrevolutionäre Partei in rüder Auseinandersetzung mit ihren politischen Gegnern den Sieg davontragen. Das Banner dieser Bewegung sei rot, das Zeichen ein gebrochenes Kreuz, auch Swastika oder Hakenkreuz genannt. Sie werde sehr bald gegen Frankreich und England zu Felde ziehen. Daraufhin werde die russische Armee, Deutschland zu Hilfe eilend, einen unfassbar großen Teil Polens besetzen. Im Grunde die Hälfte! Die andere falle logischerweise Deutschland zu. Das Ganze würde sich in einem September ereignen. Von einem Dorf namens Katyn war noch die Rede, der Zusammenhang war nicht klar. In Polens Armee würden moralische Auflösungserscheinungen zu beobachten sein, ihre Offiziere liefen auf die Seite der zerlumpten Aufständischen über. Nicht alle. Manche reihten sich in die russische Armee ein, aber die würde Trotzki später foltern lassen oder zur Zwangsarbeit schicken. In Indien bräche ebenfalls ein Aufstand aus, zu dessen Unterstützung eine fünfhunderttausend Mann starke russische Armee sich über die Gebirgspässe bewegte; selbige würde sich hernach anschicken, die französischen und englischen Kolonien zu befreien. Feuer und Rauch würden diese fernen Gegenden bedecken, Grauen und Leid sich über sie ausschütten. Und all das unter einem Zeichen, das des Satans war: fünfzackiger Stern, auf einer Spitze stehend.

      Auch auf dem Balkan, so hieß es, würde es Krieg geben, bei dem die Türkei ebenso wie Bulgarien dauerhaft unter die Räder käme. So würden zum Beispiel in Konstantinopel reguläre russische Truppen Einzug halten, die, nebenbei gesagt, von Serbien und den Nachbarstaaten gezogen kämen.

      Dagegen würde Zypern von der Türkei okkupiert und die türkische Regierung nach dort verlegt.

      In Russland würden sich aus den Truppenresten des seligen russischen Zaren Freischaren rekrutieren und diese neuen, schlagkräftigen Truppen unter der Führung wendiger junger Offiziere, die ihre Ausbildung an vorzüglichen französischen Schulen genossen hatten, eine ganze Reihe russischer Städte erobern. Die jungen Offiziere fühlten sich einzig der Zarentochter Anastasja untertan, die nämlich als Einzige dem Pogrom an ihrer Familie entkam. Und Mimosa Tako-Shima, die erstaunliche Japanerin, nannte die getreuen Vasallen der Zarentochter bei ihren genauen Namen! Der neuen Erhebung wider den grausamen Bolschewismus und überhaupt den Aufständischen würde eine schlagkräftige, vereinte russische Armee (ähnlich wie in glorreichen Zeiten) aus dem Fernen Osten zu Hilfe eilen, zügig das ganze unermesslich große Land durchqueren, viel Boden gut machen und am Ende im gnadenlosen Kampf Petersburg erobern. Sinowjew, Trotzki und Lenin flöhen nach Mexiko, wo letzterem von einem Portugiesen mit der Axt der Schädel gespalten würde.

      Für China wurden gleichfalls Volksaufstände prophezeit, infolge derer schwerbewaffnete, mit ganz neuer Waffentechnik und speziellen Schiffen, sogenannten Aeroplanträgern, ausgerüstete japanische Truppen einen Teil der chinesischen Ostküste belagern und besetzen, dabei kaputtschießen und der völligen Vernichtung anheimgeben würden. Von dort würde Japan nach russischem Gebiet, nämlich der Insel Sachalin und den Kurileninseln greifen und einen beträchtlichen Teil Sibiriens unter Kontrolle bringen. Anschließend Alaska.

      So weit, so gut.

      Dann hatte Nesterow noch von einem deutschen Gelehrten zu berichten, einem gewissen Dr. Kemmerich, welcher im Jahre 1913 in Berlin – oder möglicherweise in Leipzig – ein Buch herausgebracht habe mit dem Titel Das Kausalgesetz der Weltgeschichte. Darin habe auch dieser Doktor unter anderem angekündigt, dass 1923 ein neuer Krieg ausbrechen,