Christo Karastojanow

Teufelszwirn


Скачать книгу

dann war Projko Mankjow auf einen schweren Tisch gesprungen, den man aufs Pflaster herausgeschleppt hatte, und hatte selbiges Gedicht vor dem brodelnden Coburg-Platz deklamiert, die Verse schlugen ein in der gebeutelten, gnadenlos anarchistisch gestimmten Menge wie ein Blitz, entzündeten die Köpfe, ließen die Fäuste sich ballen zum blutigen Kampf. Und dieser Kampf brach los …)

      So war das.

      Besonders lange hing Projko am Samstag, dem 11. August, an seinem Kreuz, als er erfuhr, dass Lilka sich das Leben genommen hatte. So lange hatte er noch nie dagehangen. Bis er schließlich durch das Lager wetzte und schrieb, dass ihm der Schweiß strömte, niederschrieb in einem Zug: Wie Leuchtkugeln über dem Dachfirst kreuzen sich in mir die Erinnerungen, spucken Rauch und Feuer, um hernach zu zergehen – der Tod, o Geliebte! im Tode werden wir uns wiedersehen! – um anschließend, mit untröstlichem Seufzer, auf ein anderes Blatt zu wechseln und hinzukritzeln: GROSSER GLASWAREN-SCHLUSSVERKAUF BEI KULJU PASKOW AM COBURG-PLATZ! NICHTS WIE HIN, BEVOR ALLES ZU BRUCH GEHT! Nonsens natürlich, aber einer, über den mit Kulju und mit Todor Peow Einigkeit bestand, dass er dreimal hintereinander im Format elf mal fünf erscheinen würde. Elf mal fünf mal drei mal drei macht 495. Dreißig Prozent davon – 148,50! – für ihn.

      Steuerfrei!

      Das Gedicht riss er in kleine Stücke und verstreute sie.

      Am Abend desselben Tages ging er kurz bei den Suflarer Gärten vorbei, um Lasar, dem Jungen von Stojan Minkow, Geld abzuknöpfen; er hatte ihm für drei Tage seine Parabellum geliehen und sechs Patronen dazu. Hundert Lewa pro Tag für die Waffe macht dreihundert, plus die Patronen – zwanzig pro Stück, also noch mal hundertzwanzig, vierhundertzwanzig Lewa gesamt.

      Beim Bezahlen wollte der Junge das Ding aber noch zwei Tage länger behalten und zählte ihm die komplette Summe zitternd in die Hand.

      Sechshundertzwanzig, mit anderen Worten.

      Auf dem Rückweg ging Projko Mankjow erst bei Mitrju Prawew vorbei und ließ sich rasieren, denn anschließend wollte er Jenny bei ihrem Onkel abholen und ins Kino ausführen, Der heilige Hass, Abendvorstellung, um Viertel nach neun. Der heilige Hass war ein Kriminal- und Liebesdrama aus dem indischen Leben in zwei Folgen à fünf Teilen mit Beteiligung sämtlicher Großwildarten – Tiger, Elefanten, Krokodile, Malaysia-Schwarzbären, Schlangen – und einer Bulgarin, Zweta Datschewa, in der Hauptrolle. Obwohl (er hatte nicht extra nachgesehen), es konnte auch sein, dass sie in der hiesigen Filiale des Modernen Theaters anstelle vom Heiligen Hass schon das seit langem angekündigte Cherchez la femme mit Lucie Dorain zeigten – auch das ein Rührstück, aus dem Leben gegriffen. Egal. Für Projko Mankjow spielte es keine Rolle, ob heiliger Hass oder gesuchte Frau, entscheidend war nur, dass nach dem Kino ein neuer Versuch anstand, die sich ewig zierende Jenny mit in den dunklen Lagerraum der Gebrüder Kaischew zu nehmen. Wobei er dieses Mal alles tun würde: niederknien, sie mit Ingrimm bezirzen, damit er sie endlich rumkriegte, hinter die Bretterwand zerren und auf den schmutzigen Strohsack schmeißen konnte. Ihre Röcke raffen, ihr die Beine spreizen, sie zu Boden drücken, ihre festen Mädchenbrüste kneten und endlich über sie steigen und losreiten, wild und ausdauernd, im beizenden Geruch von rumänischem Teer, Fußbodenöl, Schmierfett und Hobelspänen (aus den Kisten mit den Gläsern) … Wenn er nur daran dachte, brach ihm der Schweiß aus. Oh ja, das sollte ein wilder, ein stürmischer Ritt werden, er wollte sie leiden sehen, ihr Stöhnen im Ohr haben, sich selbst verzehren und verströmen bis ins Letzte, um die Scham auszumerzen, die noch in ihm brannte, wenn er an Lilka dachte, an ihre kühle, frische Haut, die plötzliche, durchdringende Lust in ihrer fiebrigen Flüsterstimme, und wie ihr Kopf alsbald zu zittern anfing, ihr seliges Lächeln, und wie sie die Arme um seine nackten Schulterblätter schlang. Während draußen Soldaten durch die aufgeheizte Stadt patrouillierten, die Klubs durchkämmten, Projkos verschreckte Kumpane aus den Wohnungen und Schlupflöchern zogen, sie auf Kopf und Rücken schlugen, am Kragen hinaufzerrten zu den Kavalleriekasernen, hatte er im Lagerraum der Stern-Apotheke in Lilkas Armen gelegen, die glücklich und erschrocken zugleich war und bereit schien, die waffenstarrenden Militärs mit bloßen Händen zu erwürgen. Die Worte, die sie für ihn fand, waren voller Gier und Ergebenheit. Ob er sich Kinder wünsche, wollte sie wissen. Die Hoffnung in ihren Augen erschreckte ihn, er schauderte, sagte dann: Ja, ich hätte gern Kinder und ein Haus, und wenn sich der schreckliche Sturm draußen erst einmal gelegt hätte, würde er sie heiraten, ganz bestimmt. Es gab Momente, da glaubte er selber daran. Sie hatte gelacht. Dann versteckte er seine Pistolen an einem sicheren Ort, den nur sie beide kannten. Und tatsächlich hatte er (als die Zeitungen der Opposition schon ihr Ach und Weh hinausposaunten und Alexander Stambolijski15 höchstselbst im Sofioter Anarchistenklub auftauchte, um sich zu rechtfertigen – die Schlächterei sei durch das verantwortungslose Handeln der Militärliga verursacht, behauptete er und suchte die Geister zu bezähmen und zu beschwichtigen, während die Militärs grollend in die Kasernen zurückkehrten und sich dort verschanzten) die Apotheke als ein neuer Mensch verlassen, schön und schuftig, und konnte seine Waffen einsammeln gehen. Die Soldaten sahen ihm mit hasserfülltem Staunen nach, die Kameraden mit Neid. Als Erinnerung an jene Märztage bewahrte er die luxuriös gebundenen sechs Ausgaben der Zeitschrift Die thrakische Lyra auf, herausgegeben vom legendären Dichter Iwan Karanowski zu Jambol im längst vergessenen Jahr 1915, ein Geschenk von Lilka mit der Widmung: Meinem Geliebten von seiner Geliebten! – ohne Unterschrift. Jetzt lag der große, flache Band zuunterst in seiner Schublade, manchmal holte er ihn hervor, blätterte zerstreut die prächtigen, schneeweißen Seiten.

      So ging Projko Mankjow in seinem tadellos geschnittenen und genähten Shantung-Anzug, roter Moiré-Weste und aufgesteckter Fliege, mit flatternden Hosenbeinen über den zweifarbigen spitzen Schuhen, auf dem Kopf einen hohen, hellblauen Filzhut mit breitem Band und auf die legere englische Art hängender Krempe, eine Zigarette rauchend (Marke Jazz-Band – Feinschnitt! – einschlägig fabriziert bei Sultanier, ein Geschenk der beiden spindeldürren Inhaber), hinauf in Richtung Stadtzentrum, dergestalt eine Fahne von Parfüm, gutem Tabak und rundum guten Manieren hinter sich herziehend, dass die Leute sich nach ihm umdrehten, tz-tz! machten und sich fragten, woher dieser arme Schlucker auf einmal das Geld nahm.

      Und er lächelte nur still und ging seiner Wege.

      Jener Lasar Minkow indes, in seiner dicken Winterschuljacke schwitzend, wie die Schüler am Gemischten Pädagogischen Gymnasium16 sie trugen (er trug sie jetzt nur wegen der Parabellum unter der Achsel), eilte durch Nebenstraßen zum Stadtpark, drängte durch die vielen Leute dort, schien jemanden zu suchen; dann lief er, sich die schrundigen Lippen blutig beißend, entschlossen auf den Klub der Kommunistischen Partei zu.

      Dort, Ecke Battenberg-Boulevard17 / Coburg-Platz, angekommen, sah er jedoch ein Vorhängeschloss an der Tür zum Klub prangen, ein dünner, grimmig blickender Polizist lief davor auf und ab. Der Junge hielt bestürzt inne, schien nicht weiter zu wissen, verzog sich erst einmal zur gegenüberliegenden Ecke, wo sich Mitrju Prawews Friseurgeschäft befand, und prompt traf ihn von drinnen, durch das Schaufenster mit den aufgemalten Profilen, der eiskalte Blick von Projko Mankjow.

      Er stürzte nach links – und wäre beinahe Baldakow in die Arme gerannt, der sich stürmischen Schrittes von der Post her näherte.

      Der Junge schluckte, sah sich um – inzwischen hatte auch der Wachmann vor dem Klub Verdacht geschöpft und schaute herüber.

      Panisch presste der Junge die Pistole unter der Achsel, murmelte heiser einen wirren, sinnlosen, kaum verständlichen Gruß, machte kehrt und rannte wieder in Richtung Park.

      Verschreckt hetzte er den Battenberg-Boulevard hinab, wobei er das längs der Gemäuer des Offizierskasinos lustwandelnde Volk beiseitestoßen musste, unter den jungen Kastanien entlang – die Staubschicht auf den Blättern wie Samt –, über die alte Holzbrücke am Türkischen Bad und von da quer durch den Stadtpark, das samstägliche Gewühle. Vorbei an der Rundbühne, auf der das Blasorchester des legendären Siebenunddreißigsten Piriner Infanteriebataillons einen schweren English Waltz wummerte, vorbei an Scharen von Dämchen und allerlei Herrschaften, aufgeputzten Jüngelchen und schneidigen Offizieren, Lumpen, Bettlern, Taschendieben, Bauchladenverkäufern, schlug er sich zielstrebig durch Kraut und Büsche an der Rückseite des Spielfelds vom Sportklub Elvira,