Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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jedoch immer mehr an den Rand gedrängt worden.29 Sie manifestierte sich sowohl in der landeskirchlichen Verflechtung mit dem Feudalsystem in der Tradition eines sozialen Patriarchalismus wie auch in der konservativen Reaktion auf die 1848er-Revolution. Jähnichen charakterisiert diese Haltung folgendermassen: «Im Horizont dieses Einstellungstyps wird das Schema der durch Autoritätsbeziehungen geprägten Über- und Unterordnungen im Blick auf die sozialen Verhältnisse als unwandelbare Ordnung Gottes sanktioniert. Der bedingungslosen Pflicht zur Unterordnung und Treue der Untergebenen entsprach im Rahmen der patriarchalischen Sozialauffassung eine ganzheitliche Fürsorge- und Schutzverpflichtung der übergeordneten Stände. Zwar ist in diesem Sinn in den Predigten und in kirchlichen Verlautbarungen immer wieder an die Verantwortlichkeit der übergeordneten Stände appelliert worden, der deutliche Akzent lag jedoch in der Einschärfung einer gläubigen Ergebenheit in das gesellschaftliche Los, verknüpft mit einer religiös begründeten Wertschätzung von Arbeitsfleiss und Treue sowie der Bereitschaft, das dadurch bedingte Leid anzunehmen und im Glauben zu tragen.»30 Im Protestantismus des 19. Jahrhunderts war die sozialpatriarchale Haltung, die auch oft einfach als «Patriarchalismus» bezeichnet wird, die vorherrschende Haltung, durch die alle anderen Einstellungen geprägt worden sind und die auch im schweizerischen Protestantismus sowie bei den untersuchten Unternehmern vorherrschend anzutreffen war.31

      In der Untersuchung des Patriarchalismus waren Ernst Troeltschs (1865–1923) und Max Webers (1864–1920) Analysen des Protestantismus besonders einflussreich. Troeltsch diskutierte in seiner Untersuchung «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» den «Typus des christlichen Patriarchalismus» |25| gleich in verschiedenen Passagen.32 Weber führte in seinem Aufsatz «Wirtschaft und Gesellschaft» den Patriarchalismus unter der Überschrift «Patriarchale und patrimoniale Herrschaft»33 aus. Im Anschluss an Troeltsch und Weber bezeichnen Jähnichen und Friedrich den Patriarchalismus als «soziale Ordnungsstruktur, die – basierend auf der Hausgemeinschaft als dem ganzheitlich den entsprechenden Personenkreis und Besitzstand umfassenden Rechtsverband – dem Hausherrn eine einzig auf Tradition normierte, grundsätzlich schrankenlose Herrschaftsausübung einräumte, die unlösbar mit fundamentalen Fürsorgepflichten gekoppelt war.»34

      Die Ursprünge des Patriarchalismus reichen zurück in das neutestamentliche Schrifttum. Während der Zeit der Reformation erfuhr der Patriarchalismus zudem einen starken Auftrieb und eine erneute theologische Legitimation. Besonders deutlich ist dies in Martin Luthers grossem Katechismus, insbesondere in seiner Auslegung des vierten Gebotes, in dem der Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und der staatlichen Obrigkeit mit dem Gehorsam gegenüber den Eltern gleichgesetzt wird, was zur Folge hatte, dass der Patriarchalismus zur vorherrschenden Haltung in der lutherischen Sozialethik wurde. Selbstverständlich wurde dabei jedoch nicht nur allein der Gehor­­­sam gegenüber den Vorgesetzten eingefordert, sondern auch betont, dass von den Vorgesetzten die Wahrnehmung von Fürsorgepflichten erwartet wird. ­Troeltsch spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «patriarchalischen, agrarisch-kleinbürgerlichen Ethik»35.

      Es ist offensichtlich, dass der Patriarchalismus in einer feudalen Agrargesellschaft eine durchaus adäquate sozialpolitische Haltung darstellte. So liegt die Stärke des Patriarchalismus – wenn er denn ernst genommen wurde – auch darin, dass er zu einer sozialeren Gestaltung der Machtausübung verhalf und |26| so «zu einer personalen Humanisierung der Herrschaftsverhältnisse»36 führte. Ob der Patriarchalismus allerdings auch eine adäquate Antwort auf die Industrialisierung und die soziale Frage im 19. Jahrhundert war, muss bezweifelt werden und ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Im 19. Jahrhundert werden angesichts der sozialen Frage auch zunehmend die Schwächen und Grenzen des Patriarchalismus sichtbar. Derweil nämlich auf dem agrarisch geprägten Land der Patriarchalismus durchaus noch seine positiven Auswirkungen zeigen konnte, versagte er angesichts der sozialen Frage in den stark anonymisierten und säkularisierten Städten. Auch die protestantischen Unternehmer des SABBK thematisierten diesen unumkehrbaren Trend zumindest ansatzweise. Denn die Beziehung zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern war vermehrt der Anonymisierung unterworfen, so dass eine patriarchale Lösung der sozialen Frage je länger desto weniger möglich war.

      Als zweite Haltung bezeichnet Jähnichen die sozialdiakonische der Inneren Mission.37 Den Ursprung dieser Haltung sieht er im Konzept der In­ne­ren Mission Wicherns. Theologisch und politisch sei Wichern zwar konservativ geprägt gewesen, er habe jedoch durch sein volksmissionarisches An­liegen sozialreformerische Überlegungen mit einbezogen. Als «konservativer Mo­­­dernisierer»38 habe Wichern konkrete sozialdiakonische Arbeits­fel­der aufge­baut, indem er das Vereinswesen als zeitgemässe Handlungsform aufgegriffen habe. Ihm sei es vor allem um die Förderung einer intakten Familienstruktur gegangen. Mit seiner sozialdiakonischen Haltung habe Wichern die soziale Frage lösen wollen, indem «er eine Reintegration der neu entstandenen proletarischen Fabrikarbeiter in eine reformierte patriarchalische Sozialordnung angestrebt»39 habe.

      Als dritte Einstellung führt Jähnichen die sozialkonservative Haltung an.40 Diese sei im Anschluss an die Reichsgründung entwickelt und mit dem Begriff «Kathedersozialismus» bezeichnet worden. Wichtigster Vertreter dieser Position sei der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner (1835–1917).41 |27| Die sozialkonservative Haltung kennzeichnet Jähnichen mit folgenden Worten: «Als der entscheidende, über das auf freiwilliger Basis organisierte Handeln der Inneren Mission hinausgehende Schritt dieses Typs des sozialen ­Protestantismus ist das Bemühen um planmässiges sozialstaatliches Handeln zu nennen.»42 Der Staat solle nicht mehr nur als Macht- und Kulturstaat, sondern auch als Sozialstaat verstanden werden, der sich zugunsten der sozial Schwächeren einsetzt. Ziel ist deshalb der «Aufbau von sozialstaatliche[n] Sicherungssysteme[n], die Entwicklung eines sozialen Steuerrechts, die Ausweitung des gesetzlichen Arbeitsschutzes sowie der Aufbau öffentlich-­recht­­licher Interessenvertretungsorgane der Arbeiterschaft»43. Der sozialkonser­vativen Haltung ordnet Jähnichen auch den Juristen Theodor Lohmann (1831–1905)44, den Pfarrer Rudolf Todt (1838–1887)45 und den Hofprediger in Berlin, Adolf Stoecker (1835–1909)46 zu.

      Die vierte Haltung sieht Jähnichen im sozialliberalen Protestantismus, der sich um den 1880 gegründeten Evangelisch-sozialen Kongress47 heraus­bildete.48 Wichtigster Vertreter des sozialliberalen Protestantismus sei Friedrich Naumann (1860–1919). Die sozialliberale Haltung versteht er als Kor­rektur zu der «Staatszentrierung des sozialkonservativen Protestantismus», sie sei skeptisch gegenüber allen «Versuchen und einer direkten kirchlichen Einwirkung auf soziale Problemlagen oder gar einer Rechristianisierung der Gesellschaft».49 Die sozialliberale Haltung sei zudem getragen von einer positiven Einstellung zur Wirtschaft: «Wirtschaftspolitisch würdigten die sozial­liberalen Protestanten die Effizienzsteigerung kapitalistischen Wirt­schaf­tens und grenzten sich entschieden gegen sozial-romantische, gegen ­einseitig staats­zentrierte und insbesondere gegen sozialistische Gesell­schaftskonzep­tionen ab.»50 Ziel sei eine «Transformation des Kapitals als einer einseitigen Herrschaftsordnung» in eine «‹Wirtschaftsdemokratie› mit weitreichenden |28| Par­tizipationsrechten der Arbeitnehmerschaft und einer Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen».51 Die sozialliberale Haltung ziele somit auf eine «Ethisierung des Wirtschaftslebens», dadurch hoffe man die «Effizienzgewinne des Kapitalismus mit sozialpolitischer Verantwortung» auszugleichen.52

      Selbstverständlich war die Schweiz von den weiter oben genannten Voraussetzungen, Ursachen und Auswirkungen der sozialen Frage nicht aus­genommen.53 Die Schweiz des 19. Jahrhunderts war ebenfalls durch In­dus­trialisierung, Bevölkerungswachstum und Auflösung der Stände und Zunft­ord­nungen geprägt. Doch die Voraussetzungen und Ursachen, die in der Schweiz zur sozialen Frage geführt haben, zeichnen sich durch spezifische Kennzeichen aus, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

      Die entstehende Industrie der Schweiz war in hohem Mass geprägt durch die Rohstoffarmut und die Distanz der Schweiz