Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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nach einer staatlichen Fabrikgesetzgebung war |43| dabei zentral.118 In der anschliessenden Diskussion wurden viele verschiedene Massnahmen zur Lösung der sozialen Frage erwogen; einer der anwesenden Pfarrer sagte: «Was irgendwie Gutes angestrebt werde durch Krankenkasse, Sparkasse, Hülfsvereine u. a., sei von Allen möglichst zu unterstützen und zu befördern.»119 Andere Pfarrer forderten wie Becker vehement die Einführung eines Fabrikgesetzes. Wurde in früheren Referaten der Predigergesellschaft meist die Sünde als Ursache der sozialen Frage angesehen, so bemerkte nun ein Votant in der Diskussion: «Die sociale Frage existiert, und da kann Niemand etwas dafür und dagegen. Sie ist das Kind der Dampfmaschine, der Kartoffel und des organisierten Credites.»120 Am Ende der differenzierten Diskussion wurden die Ursachen der sozialen Frage und ihre Lösung jedoch wiederum in sozialpatriarchaler Tradition lediglich in einer Verbesserung der Moral gesehen. So wurde beschlossen, die Bundesversammlung aufzufordern, gesetzliche Bestimmungen zur Beseitigung der Ehehindernisse und für eine würdige Sonntagsfeier zu erlassen. Die diskutierten sozialpolitischen Vorschläge zur Einführung eines Fabrikgesetzes auf Bundesebene wurden hingegen von einer Mehrheit der Pfarrer nicht unterstützt und deshalb nicht an die Bundesversammlung gesandt.121

      In den folgenden Jahren thematisierte die Predigerschaft die soziale Frage nur noch am Rande in den beiden Versammlungen der Jahre 1874 und 1879.122

      Der Blick auf die schweizerische Predigergesellschaft verdeutlicht, dass sich die Pfarrer in ihren Versammlungen regelmässig und engagiert mit der sozialen Frage befassten. Rudolf Liechtenhan schreibt zusammenfassend über |44| die Auseinandersetzung der Predigergesellschaft mit der sozialen Frage: «Unser Überblick hat gezeigt, dass es an den Tagungen der Predigergesellschaft nicht an Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein, Verständnis, Pflichtgefühl und sogar Enthusiasmus gefehlt hat.»123 Viele dieser Referate standen jedoch nach Markus Mattmüllers Einschätzung «unter apologetischen Fragestellungen»124. Die Pfarrer sahen in der sozialen Frage in erster Linie eine Bedrohung für das Christentum und kümmerten sich lediglich aus diesem Grund um eine Lösung. Betrachtet man die Lösungsansätze der schweizerischen Predigergesellschaft vor dem Hintergrund der Typologie Jähnichens, so nahm diese mehrheitlich eine sozialpatriarchale Haltung ein. In ihren Referaten appellierten die Pfarrer deshalb an die Verantwortung der Unternehmer und riefen gleichzeitig die Arbeiter zu einem moralischen Leben auf.125 Neben der sozialpatriarchalen Haltung lassen sich aber auch sozialkonservative Ansätze erkennen. Beispielsweise machten sich viele Pfarrer für eine Verschärfung der Sonntagsruhe stark und einige plädierten wie Becker vehement für die Einführung von Fabrikgesetzen und insofern für planmässiges, sozialstaatliches Handeln.

      Die Predigergesellschaft war ein loser Zusammenschluss von Schweizer Pfarrern aus den verschiedenen Kantonalkirchen und hatte als solche keine offensichtlich erkennbare politische oder institutionelle Anbindung. Gerade diese politische und institutionelle Unabhängigkeit ermöglichte ihr allerdings eine freiere Auseinandersetzung mit der sozialen Frage als dies beispielsweise in der Zürcher Synode möglich war. Aus diesem Grund waren die Referate der Predigergesellschaft auch durch eine heftige Selbstkritik gekennzeichnet und zeigten eine grosse Varietät.

      Obwohl die Unternehmer in sämtlichen Referaten der Predigergesellschaft getadelt und in die Pflicht genommen wurden, galten sie dennoch für die Lösung der sozialen Frage als Verbündete. Die Referate der Predigergesellschaft nehmen nicht direkt auf Mitglieder des SABBK Bezug. Die Pfarrer tauschten sich aber mit vereinzelten Mitgliedern des SABBK über die soziale Frage aus. So sandten sich beispielsweise der Glarner Pfarrer Becker und der |45| Basler Unternehmer Karl Sarasin126 gegenseitig ihre publizierten Schriften zu. Becker schrieb in einem Begleitbrief zu einem «Schriftchen», das er Sarasin zustellte: «Wir sind zwei Freunde, die einander etwas scheel anblicken, weil sie nicht in allen Dingen mit einander übereinstimmen. Aber doch in vielen Stücken ziehen wir an einem Seil […].»127

      Aufgeklärte bürgerliche Philanthropen gründeten 1810 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG).128 Die SGG verfolgte das Ziel, soziale Missstände auf humanistischer, republikanistischer und christlicher Grundlage zu erfassen und Anregungen für Hilfeleistungen zu geben. Für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage war die SGG als sozialpolitisches Diskussionsforum eine zentrale Institution der Schweiz.129 Seit ihrer Gründung engagierten sich in der SGG unzählige evangelische und vereinzelte katholische Geistliche. Die SGG war somit eng mit dem schweizerischen Protestantismus verknüpft. Zudem waren viele Unternehmer in der SGG engagiert, so dass sie «ein wichtiges Forum für den Meinungsaustausch auch zwischen Pfarrern und Arbeitgebern»130 bildete. Die SGG befasste sich regelmässig mit den unterschiedlichsten politischen und sozialen Themen, so auch mit der sozialen Frage. Die frühesten Auseinandersetzungen mit der sozialen Frage fanden jedoch in den lokalen und kantonalen Gesellschaften der SGG statt, so |46| zum Beispiel in der Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen (GGG) in Basel.131 Bereits 1841 befasste sich die GGG in einer Kommission mit der sozialen Frage und publizierte 1843 ihre Ergebnisse unter folgendem Titel: «Gutachten der von der Baslerischen Abtheilung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft aufgeteilten Kommission über die Frage betreffend die Fabrikarbeiter-Verhältnisse»132. Das «Gutachten» gibt einen informativen Einblick in die bereits Anfang der 1850er Jahre in diversen Industriezweigen in und um Basel bestehenden Einrichtungen zur Linderung der sozialen Frage, wie beispielsweise Kranken- und Begräbniskassen, Sparkassen und Kleinkinderschulen. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche oder der schweizerischen Predigergesellschaft hatte die SGG nicht den Anspruch, die soziale Frage theologisch zu deuten. Sie versuchte lediglich, die sozialen Verhältnisse nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu befragen und Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Insofern wandte die SGG als eine der ersten Institutionen der Schweiz sozialstatistische Methoden an.133 Unter den Verbesserungsvorschlägen wurde bereits sehr früh die Einführung obligatorischer Krankenkassen und staatlicher Fabrikgesetzgebung diskutiert, wobei aber meist vor staatsinterventionistischen Lösungen gewarnt und die Freiwilligkeit der Initiative favorisiert wurde.

      Nach einer ersten Beschäftigung auf kantonaler und lokaler Ebene, wie beispielsweise der GGG in Basel, begann sich Mitte der 1860er Jahre dann die SGG auf gesamtschweizerischer Ebene mit der sozialen Frage zu befassen. 1864 plädierte der als wirtschaftsliberal geltende Pfarrer Johann Ludwig Spyri (1822–1895)134 für eine maximale Arbeitszeit von 12 Stunden in den Fabriken.135 1868 hielt Bundesrat Friedrich Frey-Herosé (1801–1873)136 in Aarau ein |47| Referat über die soziale Frage und deren Lösung.137 Im Anschluss an dieses Referat bildete die SGG eine «Commission für die Arbeiterfrage».138 Sechs der elf Mitglieder dieser Kommission waren später auch Mitglieder des SABBK.139 Die «Arbeiter-Commission» verfolgte folgende Ziele: «1) die Kenntnisse der Zustände der Arbeiter zu verbreiten und auf die mit der Industrie verbundenen Übelstände zum Zwecke ihrer Abhülfe aufmerksam zu machen; 2) alle Versuche zur Besserung der Lage der Arbeiter sorgfältig zu prüfen und den ganzen Verlauf der socialen Bewegung fortgesetzt zu beobachten; 3) die gesammelten Beobachtungen und Materialien durch Mittheilungen an die Oeffentlichkeit und durch Anregung von Reformen und nützlichen Einrichtungen nutzbar zu machen.»140 Die Kommission berichtete regelmässig und ausführlich von ihren Erkundungen und Überzeugungen.141 Dabei favorisierte sie zur Lösung der sozialen Frage die sozialpatriarchale Haltung, indem sie vor allem die Stärkung der betrieblichen Wohlfahrt propagierte. In der SGG «erodierte» seit den 1870er Jahren der «sozialpolitische Konsens» jedoch zunehmend und es bildeten sich zwei Lager. Die Mitglieder der Kommission kamen dabei mehrheitlich aus dem wirtschaftsliberalen, staatskritischen und unternehmerischen und nicht aus dem sozialreformerischen Flügel.142 Als |48| eine der ersten Institutionen untersuchte die SGG jedoch auch akribisch die Einkommensverhältnisse der Arbeiter in verschiedenen Gemeinden der Schweiz und wies darauf hin, dass die Arbeiter meist nicht aus moralischen Gründen, sondern aufgrund des zu knappen Verdienstes zu wenig Geld hatten, um ihre Existenz zu bestreiten.

      Die SGG, im Speziellen die «Arbeiter-Commission», war also diejenige Institution, in der protestantische Pfarrer und protestantische Unternehmer gemeinsam die soziale Frage analysierten, miteinander Lösungsansätze untersuchten und präsentierten. Eine theologische Deutung der sozialen Frage blieb dabei jedoch aus. Vielmehr analysierte die SGG die sozialen Verhältnisse nach sozialstatistischen Methoden