Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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Wäre es nicht richtig und der Wahrheit entsprechend, endlich einmal unmissverständlich zu sagen, dass die Vertreter der protestantischen Kirche zu denen gehörten, die, auf die Stimme des Evangeliums horchend, ausserordentlich früh, nämlich schon zu Beginn der industriellen Revolution, sich |59| der sozialen Frage annahmen?»188 Die Untersuchung der verschiedenen Quellen hat bestätigt, dass Mattmüller die Situation treffender beurteilt als Hauser. Tatsächlich ist es erstaunlich, mit welch apologetischem Interesse sich beispielsweise die Zürcher Kirche mit der sozialen Frage befasste und dabei nur die sozialpatriarchale Haltung propagierte und weder sozialdiakonische noch sozialkonservative Ideen diskutierte. Dennoch lassen sich in der schweizerischen Predigergesellschaft, bei den Reformern und vor allem in der SGG auch Ansätze erkennen, die deutlich über den Sozialpatriarchalismus hinausgehen.

      Die folgenden Erkenntnisse dienen nun der weiteren Untersuchung der protestantischen, christlichen Unternehmer, insbesondere des SABBK: Erstens erhielten die christlichen Unternehmer am meisten Rückhalt von konservativer Seite, die aber auch die grössten Hoffnungen auf ihre sozialpatriarchalen Bestrebungen setzten. Zweitens wird die Erkenntnis festgehalten, dass sechs Mitglieder des SABBK bereits im Jahr 1868 miteinander in einer Kommission der SGG über die soziale Frage debattierten.

      Im nächsten Kapitel soll nun aber vorerst danach gefragt werden, was unter einem christlichen Unternehmer verstanden werden kann und was für Forschung zu diesem Thema bereits existiert.

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      3. Christliche Unternehmer im 19. Jahrhundert

      Wie im vorangehenden Kapitel dargestellt, haben die Kirchen im 19. Jahrhundert vielfältig auf die soziale Frage reagiert. Insbesondere in konservativen und erwecklich-pietistischen Kreisen (in der Schweiz auch «Bekenntnistreue» genannt) erhoffte man sich eine Lösung der sozialen Frage durch patriarchal eingestellte christliche Unternehmer. Im vorliegenden Kapitel soll die Forschung diskutiert werden, die bereits über christliche Unternehmer und ihre Auseinandersetzung mit der sozialen Frage publiziert wurde. Hierzu soll zunächst danach gefragt werden, welche Definitionen christlicher Unternehmer diese Forschung entwickelte. Danach soll den Gründen nachgegangen werden, weshalb überhaupt nach christlichen Unternehmern geforscht wurde. In einem weiteren Abschnitt werden sodann in einem Forschungsüberblick christliche Unternehmer und ihre jeweiligen sozialpolitischen Haltungen vorgestellt. Die meisten dieser Unternehmer stammen aus Deutschland. Daran anschliessend wird nach christlichen Unternehmern in der Schweiz gefragt, bevor dann in einem Fazit die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst werden.

      Der Titel dieser Untersuchung verspricht eine Erforschung «protestantischer Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts». Die Bezeichnung «protestantisch» hat ihren Grund darin, dass alle Unternehmer des SABBK – einzige Ausnahme ist der christkatholische Carl Franz Bally (1821–1899) – formal einer protestantischen Kirche der Schweiz angehörten. Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht nun darin zu zeigen, inwiefern diese protestantischen Unternehmer auch «christliche Unternehmer» waren.

      Die vorliegende Untersuchung fokussiert also auf protestantische – und somit christliche – Unternehmer des 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch gegenwärtig in Deutschland |62| und der Schweiz Unternehmer gibt, die sich als «getaufte Christen und Glieder der Kirche […] in der Verantwortung für die Gesellschaft [sehen], in der sie leben und arbeiten. Sie engagieren sich in und für ihre Kirche und beteiligen sich am Dialog zwischen Kirche und Wirtschaft».189 Viele dieser Unternehmer haben sich in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossen, beispielsweise im Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer (AEM) oder im Bund Katholischer Unternehmer (BKU). Gerade in jüngster Vergangenheit lässt sich im Umkreis dieser Organisationen auch eine intensivierte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung des Unternehmers/der Unternehmerin für die Gesellschaft beobachten.190

      Welche Definitionsversuche für «christliche Unternehmer» des 19. Jahrhunderts gibt es? In Monographien über «christliche Unternehmer» sind nur vereinzelte Versuche zu finden, diesen Begriff zu definieren.191 Lediglich ­Chris­toph Mehl hat in seiner Untersuchung zum christlichen Unternehmer |63| Ernest Mehl (1836–1912) versucht, den Begriff näher zu bestimmen: Christliche Unternehmer sind «diejenigen Einzelpersonen […], die im industriellen Kontext […] in verantwortungsvoller Führungsposition tätig waren […] und gesellschaftlich relevante soziale Leistungen in ihrem Beruf auf dem Hintergrund einer ausgeprägten christlichen Motivation vollbrachten. Diese Gruppe ist keine einheitliche Grösse, sondern umfasst im Einzelnen sehr unterschiedliche Biographien, wobei beim gegenwärtigen Forschungsstand angenommen werden kann, dass diesen Personen eine protestantisch geprägte patriarchale Grundhaltung gemeinsam war […].»192 Von dieser Definition soll im Folgenden ausgegangen werden, wobei die einzelnen Bestandteile der Mehlschen Definition diskutiert, wenn nötig präzisiert und um einige wesentliche Aspekte ergänzt werden sollen.193 Mehl versteht unter einem christlichen Unternehmer eine «Einzelperson», die wesentliche «soziale Leistungen» vollbracht hat. Eine genauere Betrachtung zeigt aber in vielen Fällen, dass im Konzept des christlichen Unternehmers nicht von einer «Einzelperson» ausgegangen werden kann, sondern beispielsweise erst durch die engagierte Zusammenarbeit eines Ehepaars, einer Familie oder einer klösterlichen Gemeinschaft das Konzept eines christlichen Unternehmers realisiert werden konnte. Mehls Definition muss also dahingehend ergänzt werden, dass das Konzept des christlichen Unternehmers nicht bloss aus einer «Einzelperson» besteht, sondern meist andere Personen mit einschliesst. Gerade der von Mehl als «soziale Leistungen» bezeichnete Aspekt wurde vielfach von der Ehefrau des Unternehmers geleistet.194 Die in Mehls Definition genannte «patriarchale Grundhaltung» der christlichen Unternehmer realisiert sich also meist erst durch die Zusammenarbeit eines Ehepaars und kaum durch eine «Einzelperson» allein.

      Ein weiterer zentraler, aber ergänzungsbedürftiger Aspekt in Mehls Definition ist die Aussage, dass christliche Unternehmer «gesellschaftlich relevante |64| soziale Leistungen in ihrem Beruf» erbrächten. Mehl führt zwar nicht aus, was er unter dem Begriff «Beruf» versteht, aus dem weiteren Zusammenhang kann aber geschlossen werden, dass er «Beruf» im Sinne der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem Betrieb oder einem Unternehmen auffasst. Dadurch wird aber der Wirkungsbereich eines christlichen Unternehmers unnötig auf die betriebliche Sozialpolitik reduziert. Das Engagement für eine betriebliche Sozialpolitik ist offensichtlich und unbestritten ein wesentlicher Aspekt eines christlichen Unternehmers, jedoch keineswegs der einzige. Es gibt viele Beispiele christlicher Unternehmer, zu deren Selbstverständnis es gehörte, sich nicht nur in ihrem eigenen Betrieb, sondern ebenso in Kirche, Politik und Gesellschaft zu engagieren.195

      Mehl schreibt des Weiteren, dass ein christlicher Unternehmer «soziale Leistungen […] auf dem Hintergrund einer ausgeprägten christlichen Motivation» vollbringe. Der Aspekt einer «ausgeprägten christlichen Motivation» ist zweifellos eine naheliegende Möglichkeit, um einen christlichen Unternehmer zu definieren. Wie nun aber diese «ausgeprägte christliche Motivation» im Einzelfall beobachtet werden kann, und worin sie konkret besteht, bleibt in vielen Fällen eine offene Frage.196 Auf jeden Fall ist es eine unzulässige Verkürzung, |65| von einer «ausgeprägten» christlichen Motivation auszugehen. Die christlichen Kirchen und Traditionen waren im 19. Jahrhundert ein prägender Rahmen der von niemandem ignoriert werden konnte. Insofern kann jeder Unternehmer, der in jener Zeit gelebt hat – selbstverständlich mit Ausnahme Angehöriger anderer Religionen –, in irgendeiner Weise als christlicher Unternehmer angesehen werden. Deshalb ist es nicht unproblematisch, wenn nur derjenige als christlicher Unternehmer angesehen wird, der sich selbst auch als solcher verstand und bei dem eine «ausgeprägte» christliche Motivation explizit beobachtbar ist. Infolgedessen möchte auch ich nicht (einschränkend) definieren, wie das «christlich» zu verstehen ist. Dennoch werden in der vorliegenden Arbeit vornehmlich Unternehmer dargestellt, die versucht haben, das – wie auch immer verstandene – Christentum mit ihrer Rolle als Unternehmer in Beziehung zu setzen. Dass diese Beziehung sehr unterschiedlich gesehen und ausgestaltet wurde, soll die vorliegende Arbeit zeigen.

      Mehl